Bulletin No. 5

mit

Letzte Worte vor dem Zusammenkommen

Politik – Non-Politik – Ethik

und im Anhang:

Moses Dobruška: Wie alles anfing – Die Straßburger Thesen

Michele Garau: Die Strategie der Separation

Mikkel Bolt Rasmussen: Die Bewegung der Verweigerung

Bulletin No. 5 (als pdf)

Politik – Non-Politik – Ethik

Nun, die Situation ist simpel und deprimierend zugleich: Auf der einen Seite erleben wir eine autoritäre Formierung sondergleichen, den Krieg als Mittel der Politik, der immer mehr an uns heranrückt, unglaubliche Rassisierungen und den Durchmarsch eines ökologischen Akkumulationsregimes. Nicht immer dagegen, sondern oft als dessen Ermöglichung freiwillige Knechtschaften bis weit in die Linke. Soweit, dass die Linke im Grunde nicht mehr existiert, sich auf jeden Fall die Aufstände und Widersprüche gegen die verwüstete Wirklichkeit an ganz anderen Orten wiederfinden. Ist das, das Ende der Politik als Gestaltungsversuch von Gesellschaft und Geschichte? Nicht, dass Ihr uns missversteht: Im Begriff des Gestaltungsversuchs sehen wir kein liberales, demokratisches Aushandlungsmodell. So war es nie. Auch die Polis konnte ihre Aushandlungsprozesse ja nur unter Ausschluss der Barbaren als Zivilisation verkaufen. Aber Politik scheint nicht einmal mehr als Klassenkampf, nicht einmal mehr als wütender Widerspruch gegen die Herrschenden zu existieren. Nur als Wut gegen die Wirklichkeit, als dystopische Revolte, die aber niemals zur Unterbrechung reicht. Aber fragen wir nicht zuerst nach unserem Ort in den Revolten, das wäre ein alte, linke Frage. Fragen wir nach unserem Ort in der Welt.

Wo wollen wir kämpfen?

Als jene, die im Zentrum der Macht leben, aber die Macht stürzen wollen? Die Barbaren waren die Ausgeschlossenen im Römischen Reich und die Ausgeschlossenen an den Rändern des Reichs. Gilt es einen dieser Orte aufzusuchen, zu Barbaren zu werden angesichts einer Zivilisation, die totalisierender ist als jemals zuvor? Aber wo sind diese Orte? Ist der Ort einer Politik schon gegeben, sind es die Orte, an denen die Macht auf die Wut trifft? Sind es die Orte symbolischer Konfrontation auf der Strasse, an den Fabriken der Weltvernichtung, an den Orten der vermeintlichen Konspiration der Herrschaft? Oder finden wir die Orte erst, wenn wir nicht mehr behaupten zu wissen, wo sie sind und wer sich an diesen Orten trifft? Sind es Orte, die erreichbar sind, oder die ganz unerreichbar am anderen Ende der Welt liegen, und die wir trotzdem zu unseren Orten machen könnten oder müssten?

Wie wollen wir kämpfen?

Es gibt jene, die die Kampfformen der Zukunft nicht mehr als Politik, sondern als eine „Ethik der Beständigkeit“ bezeichnen. Die das revolutionäre Werden in der Herausbildung einer Ethik sehen, die uns ermächtigt, in jeder noch so alltäglichen Handlung die Macht zu zerschlagen und ein macht-loses Miteinander zu konstruieren. Eine solche Politik der ethischen Grundierung, der „menschlichen Komplizenschaften“ wie das Konspirationistische Manifest die Zapatisten zitiert, könnte die Gegenform zu einer kybernetischen Übermacht der Herrschaft werden, die uns als reine Information begreift, und uns mit den Mitteln der Mathematisierung, der Algorithmen beherrschen will. Solche Politik kann auch als Destitution, d.h. der Entsetzung der Macht durch Herausbildung einer ganz anderen Lebensform verstanden werden. Allerdings geht es hier um ein Verständnis von Lebensform, dass das ganze Leben bestimmen würde, und sich keineswegs auf Nischenexistenzen etc. beschränken könnte. Destruktion und Konstruktion gehen mit ihr einher, auch in Form von Aufständen. Trotzdem ist sie nicht zu verwechseln mit dem Vorschlag des Insurrektionalismus, der Politik als Selbstorganisation affinitärer Gruppen angesichts eines Ereignisses versteht. Nicht zuletzt die Frage der Partei beantworten diese beiden Vorschläge verschieden. Und dann gibt es noch die Non-Bewegungen, Namensgeber dieses Kongresses. Noch weniger Strategie als die beiden vorherigen Formen von Revolte und Revolution, sind sie die Beschreibung eines Phänomens unserer Zeit. Ob die gilets jaunes, die Revolte in Chile oder die George Floyd Proteste: die Revolten unserer Zeit entbehren jeglicher Logik von Repräsentation und klassischer Organisierung. In ihnen findet eine Neu-Zusammensetzung oder Neu-Findung, der durch den neoliberalen Kapitalismus atomisierten Identitäten statt, das was Endnotes in ihrem Text „Vorwärts, Barabaren“1 die Verwirrung der Identitäten nennt. Diese Identitäten finden sich zusammen auf Basis einer geteilten Erfahrung (Hunger, Polizeigewalt, Ausgrenzung, Missachtung, …), die die Grenzen ihrer jeweiligen Identitäten sprengt und verweilen zugleich im Bezugsrahmen derselben. Insofern zeigen sie die Krise der Legitimität und Repräsentation (wie zum Beispiel den Niedergang der Arbeiterklasse seit den 70er Jahren, dessen mangelndes Identifikationspotenzial ja auch auf den Niedergang der damit einher gehenden ökonomischen Verhältnisse verweist) auf und weisen zugleich über sie hinaus, ohne in der Lage zu sein, die Verhältnisse zu stürzen. Gerade weil sie dem Bezugsrahmen der Identität verhaftet bleiben, unterliegen sie dessen Grenzen: trotz Erfahrung von Gemeinschaft im Kampf kann die Atomisierung der Einzelnen nicht endgültig überwunden werden, und trotz der Fähigkeit eine negative Einheit gegen den Staat zu bilden, verhindert die Fragmentierung in Einzelne die Entwicklung einer positiven politischen Kraft. Politik kehrt – so Endnotes zu Recht – in der klassischen Form von Feindschaft und Spaltung mit aller Wucht zurück, und könne deshalb auch nicht mehr sein, als der subjektive Ausdruck einer allgemeinen Unordnung der kapitalistischen Verhältnisse.

Was also könnte Politik sein?

Die Frage nach Politik ist im Zeitalter der Gouvernementalität bzw. des kybernetisch organisierten Kapitalismus auch eine nach der Infrastruktur. Infrastruktur der Herrschaft oder Infrastruktur des Lebens? Wir leben nach dem Technikoptimismus der 2. Internationale2, man könnte sogar meinen, wir leben nach dem Fortschrittsglauben der Moderne. Trotz des kapitalistischen Exzesses, den wir täglich erleben, wird die Gegenwart angesichts der Katastrophe auf Dauer gestellt. Wir wissen also, von der Technik ist kein Heil in der Zukunft zu erwarten. Ohne Technik aber lässt es sich nicht leben. Welche Techniken erlernen, welche verlernen, welche zerstören?

Angesichts einer Herrschaft ohne Herren ist Politik (wenn wir an diesem Begriff meinen festhalten zu können, ohne uns auf Irrwege zu begeben) auch jene Frage nach der Subjektivierung als Knechte. Die Macht anzugreifen bedeutet also auch uns anzugreifen; aber wie eine Selbstzerstörung vollziehen ohne uns selbst zu zerstören? Fest steht, welche Form der Politik, Anti-Politik oder Ethik auch immer wir vorschlagen, sie muss von uns selbst ausgehen und uns selbst zum Ziel haben. Wie aber dabei zum Einen nicht in die Falle der Moralisierung der Politik tappen und zum Anderen nicht die globalen Machtverhältnisse aus dem Blick verlieren?

Mit wem wollen wir kämpfen?

Wenn wir Politik als Politik der ethischen Beständigkeit, als Aufbau menschlicher Beständigkeiten, als Destitution der Macht oder konspirationistischen Aufstand verstehen, dann stellt sich ebenso wie die Fragen nach den Orten unserer Kämpfe auch die Frage nach Komplizen unserer Kämpfe. Die Polis, die BürgerInnen hat es nie gegeben, die Partei und ihre ParteigängerInnen sind Geschichte. Also müssen wir uns auf die Suche nach denen begeben, die nichts repräsentieren, die niemanden repräsentieren. Außer vielleicht ihre eigene Wut, ihre eigene Bereitschaft zur Destitution der Macht und ihre eigene Phantasie, ihren Willen zum Leben. Wir werden also nicht nach irgendeinem politischen Subjekt suchen, weder nach dem Proletariat, noch nach dem Prekariat. Wir werden keine Hoffnung auf die migrantischen Kämpfe setzen, auch nicht auf die Jugendlichen. Wir werden darauf setzen müssen, unter all diesen Kämpfenden jenen zu begegnen, die in diesen Kämpfen zu denen werden, die wir alle suchen. Das wird ein langer Weg.

Revolution und Sieg

Wenn wir uns jenseits des Verhältnisses von konstituierender und konstituierter Macht bewegen, wenn wir nicht darauf aus sind, die Macht zu erringen – sei es im Sinne einer Diktatur (des Proletariats) oder einer Demokratie (der Räte oder Bourgeoisie) – was bleibt? Und das in doppeltem Sinne: was bleibt zu tun und was bleibt von der möglichen Revolution? Was heißt es dann zu siegen?

Vielleicht haltet ihr uns für größenwahnsinnig, dass wir in einer Situation der historischen Schwäche die Frage nach dem Sieg stellen. Aber sie erscheint uns unerlässlich, um beurteilen zu können, was richtig ist zu tun. Und das nicht zuletzt, weil wir immer noch siegen wollen.

Nichtsdestotrotz stehen wir vor einem Problem, denn „[e]ntweder man veröffentlicht eine revolutionäre Strategie und kann sie nicht umsetzen oder man formuliert keine Strategie und findet sich mit der Darlegung von Feststellungen, Analysen und Geschichten ab.“3 Wir können nichts weiter, als methodische Überlegungen anzustellen, die dem Aufbau von Kräften dienen, die wiederum im Stande sind, die notwendigen revolutionären Strategien zu entwickeln, zu tragen und anzuwenden. Genau diese methodischen Überlegungen wollen wir mit euch anstellen. Dafür wollen wir uns zuallererst mit euch verständigen, über uns und über die Welt. Ohne gemeinsame Sprache keine Revolte, kein Aufstand, keine Revolution. Ohne diese wiederum keine gemeinsame Sprache. Die Verständigung kann also nicht mehr als ein Versuch sein, begrenzt und stolpernd vielleicht, an dem wir euch trotzdem herzlich einladen, teil zu haben.

1https://non.copyriot.com/vorwaerts-barbaren/

2Wir meinen hiermit den dem Fortschrittsglauben inhärenten Technikoptimismus – durch technologischen Fortschritt würden wir uns zwangsläufig unserer Befreiung und dem Kommunismus annähern – , der sich in den Vorstellungen der stark sozialdemokratisch geprägten zweiten Internationale von 1889 bis 1914 ausdrückte und in der Arbeiterbewegung der damaligen Zeit Standard war.

3Konspirationistisches Manifest, S. 198

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