68 und darüber hinaus

Jouir sans entraves“ war im Pariser Mai 68 eine der wilden Parolen, die überall an den Mauern der Stadt auftauchten. Wir haben sie 1973 in einem MaD-Falttext mit gesammelten „Maiparolen“ als „Genießen ohne Hemmungen“ übersetzt. Die vollständige Parole dieser Mauer: „Leben ohne tote Zeit – Genießen ohne Hemmungen“ war eine zentrale Losung für meine kollektive politische Entwicklung. „Entrave“ wird im Wörterbuch von 1979 mit „Fesseln, Hemmnis, Hindernis, Behinderung, Störung“ ins Deutsche übersetzt. Darum ging es uns: die Ent-Hemmung, die Störung des Bestehenden, das Lösen aus den Fesseln. Wir wollten den Moment der Revolte für uns beanspruchen und weiter entwickeln.

Das bedeutete zunächst, uns in einem radikalen Impuls aus den gesellschaftlichen Konventionen zu befreien, das moralische Konzept von Schuld und Sühne abzulehnen, ebenso die Teilhabe an der „alten Welt“ und ihrem Stillstand zurückzuweisen. Wir wollten einen revolutionären Begriff und Inhalt von Genuss erkunden und erlebbar machen – im immer noch nach-faschistischen, gehemmten, biederen und gewaltförmigen Deutschland der frühen 70er Jahre. Das war eine spezielle historische Einbettung, die heute noch als Resonanz die gesellschaftliche Oberfläche grundiert.

Wenn wir die uns umgebenden aktuellen Gesellschaften betrachten, ist der Begriff und die Praxis des unmittelbaren Genusses der forcierten Rekuperierung, wie die Situationisten sagten, ausgesetzt. Sein Inhalt soll aus dem „revolutionären“ Zusammenhang gerissen, im digitalen Konsum zerstückelt und entwertet, bzw. in kapitalistisch nutzbare Werte verwandelt werden. Mit der Warenförmigkeit einher geht die Verflachung und Atomisierung des Genusses, die Vereinzelung der Genießenden.

Wenn wir andererseits über die gegenwärtigen Non-Bewegungen sprechen, ist das Moment des unmittelbaren Genusses noch im alten, nicht rekuperierten Sinn spürbar. In den Aufstandsmomenten geht es um Wut und Genuss gleichzeitig, um Bruch und Utopie. Es geht auch gleichzeitig um vergangene und gegenwärtige Revolten, um Anklänge und Nachhall, es geht um klare politische Forderungen und um den Ausdruck eines universellen Imaginären, welches als Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben immer wieder durchbricht.

Den Zusammenhang von unvermittelter Wut und unmittelbarem Genuss zu untersuchen, erfordert zunächst eine kurze Klärung der zwei Adjektive: unvermittelt und unmittelbar.

Unvermittelt heißt hier, nach meinem Verständnis: kein Diskurs mit der „Macht“, weder mit staatlichen, gewerkschaftlichen, politischen oder kulturellen Institutionen. Kein Medientalk. Das tun, was der eigenen „Wahrheit“, der selbst definierten „Notwendigkeit“ entspricht, was dem eigenen Genuss dient. Keine Führer, keine Repräsentanten, keine Vermittler keinerlei Geschlechts.

Und unmittelbar: kein Stufenplan, kein Entwicklungsmodell, sondern in jedem Moment alles fordern, bedingungslos.

Und dann: Wut und Genuss als Einheit verstehen, als Impuls des biographischen und politischen Bruchs mit den unterdrückenden Verhältnissen, und gleichzeitig als spontanen Gegenentwurf gegen ein Überleben in Verzicht und Demut.

Aus der subjektiven Wut ein experimentelles Wir bilden, das den Genuss möglich macht. Das nicht unbedingt dieselbe Sprache spricht, kein kompaktes „Revolutionäres Wir“, kein geschlossenes „Klassen-Wir“, kein festgelegtes politisches Wir darstellt, sondern ein aus diversen Subjektivitäten zusammengesetztes Wir, das sich im Moment des Aufstands bildet. Die Stärkung der subjektiven Formen, die durch die kollektive Zusammensetzung entstehen, zum Ziel haben.

Natürlich beginnen sofort nach dem Ausbruch der Revolte die Fragestellungen, deren freie und prozesshafte Erörterungen die „Revolution“, die revolutionäre Situation ausmachen.

Auch divergierende, leidenschaftliche Subjektivitäten oder Kollektivitäten müssen eine Form der Zusammenarbeit für pragmatische Interventionen im Hier und Jetzt entwickeln. Es muss sich eine Orientierung herausbilden, Grundlagen und Details des Zusammen-Tuns. Laboratorien des neuen Bewusstseins und des neuen Tätigseins, kollektive, kommunale Werte, neue Räume des Zusammenseins.

Die Pariser Commune artikulierte solche Werte 1871: eine universelle Republik, Dezentralisation und Partizipation und, was den Genuss betrifft: kein Luxus der herrschenden Klasse, sondern kommunaler Luxus. In der Reflexion über die Commune wird deutlich, dass ein revolutionärer Prozess eine unendliche Transformation bedeutet, die nicht ideologisch, nicht identitär geprägt sein darf, die stattdessen Solidarität unter extremen Diversitäten erfordert. Vielleicht war und ist die auch damals gefundene Erkenntnis hilfreich, dass die Einheit der Erfahrung mehr zählt als die Divergenz der Einschätzungen. Kropotkin formulierte Solidarität als revolutionäre Strategie. Solidarität verstanden nicht als eine Praxis der Vereinheitlichung, sondern eine zur Förderung und Stärkung der Diversität der Gruppen. Daraus folgt als wesentliche Qualität der Bewegung die Zusammenfügung, die Komposition einer freien diversen Gesellschaft, einer zusammengesetzten gesellschaftlichen Autonomie. Während und in der Commune wurden säkulare Orte der Versammlung, der Treffen, des kommunalen Wissens, der Symbole geschaffen, kommunale Macht und lokale Solidarität praktiziert. Die Orte waren Teil des gemeinsamen Lebens als tastende Bewegung des Kommunismus, die gelebt und ausprobiert werden muss. Die Commune entstand als unvermittelte und unmittelbare Form, sich durch Assoziation und Kooperation zu versammeln und selbst zu bestimmen.

Die Commune wurde nach knapp drei Monaten brutal vernichtet. Aber die Resonanzen dieses großen anti-staatlichen Experiments wurden beispielsweise in den Diskussionen und Versammlungen der spanischen Proletarisierten, Unterdrückten, Ausgeplünderten zu Beginn des 20.Jahrhunderts wieder aufgenommen. Durch die Emissäre der Internationale wurden die Ideen der Commune weitergetragen und jeweils vor Ort diskutiert. Die Vorstellung vom dezentralen Föderalismus, der aus autonomen lokalen Einheiten besteht, die in einer weltumspannenden Assoziation kooperieren, die strikte Ablehnung des Staates oder auch des Konzepts der Nation, die Bildung von selbstverwalteten Kollektivitäten und Komitees bei der Arbeit, in den Stadtvierteln, das freie Zusammenleben, die Volksbildung wurden weiter entwickelt. Die Frage der Emanzipation wurde getrennt von der der Institutionen, da Institutionen immer eine Form der Kontrolle und Einhegung darstellen und darauf aus sind, sich selbst zu reproduzieren.

Der historische Erfahrungsschatz und die praktischen sozialen Prozesse kamen mit voller Kraft in der spanischen Revolution von 1936 hervor, als in einer Art „wilder Demokratie“ die Klasse der Subalternen sich ermächtigte und sich selbst eine gesellschaftliche Form gab. Hier wurde das praktiziert, was schon in der Commune deutlich wurde: die Revolution als anti-staatliche Autonomie. Und diese Autonomie wurde übrigens nicht 1939 von der faschistischen Allianz zerschlagen, sondern schon 1937 von den „republikanischen“ Kräften, die mithilfe des sowjetischen Machtapparats den Staat mit seinen Kontrollinstanzen und Herrschaftsinstrumenten neu etablierten.

1968 gab es eine weltweite Erschütterung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die in Frankreich mit einem wilden Streik (gegen die KP und gegen die Gewerkschaften) von 11 Millionen Arbeiter*innen einherging. Man kann die 68er Bewegungen als Weiterentwicklung und Katalysator der weltweiten Welle anti-institutioneller, anti-autoritärer, anti-staatlicher Bewegungen verstehen, die bis heute anhalten. Die Partisanen des Genusses, die Poeten der Autonomie kamen wieder kollektiv zum Ausdruck, in ungeheurer Vielfalt. Man findet eine große Zahl ausdrücklicher Spuren der Verteidigung der Subjektivität, Spuren der Wut und des Verlangens nach Genuss. Subjektivitäten voller heiterer und quälender Ungeheuer, die sich mit anderen Subjektivitäten verbündet fühlten. Und die die individuelle Kreativität im besten Fall als Grundlage der Versammlungen zu einer „generalisierten Selbstverwaltung“ aller Aspekte der Gesellschaft verstanden. Eine Föderation von nach Autonomie verlangenden Individuen.

Was sich in den Straßen von Paris und überall auf der Welt abspielte, waren Impulse zum Genuss, getragen von radikaler Heftigkeit, mit grimmigem Humor. Es ist zu spüren, wie die Perspektive der Macht umgekehrt wurde in ein Manifest für die Befreiung der Menschen aus allen Rollenzuweisungen, Einschließungen und Ausschließungen, Enteignungen, Unterdrückungen. Und wie noch einmal die Gewaltverhältnisse in ein Potenzial übergingen, in eine Potenz, eine Möglichkeit und eine Stärke, die Subjektivität und Kollektivität verbindet.

Die Zapatisten haben 1994 einen großen und wirkmächtigen Möglichkeitsraum in ihren autonomen Gemeinschaften in Chiapas / Mexiko gebaut. All das hier Beschriebene findet sich in ihrer langanhaltenden Initiative wieder. Dazu ein Zitat der brasilianisch-argentinischen Anthropologin Rita Segato: „Während das Kapital und die Moderne von Natur aus kurzsichtig sind, ist die strategische Intelligenz der indigenen Gemeinschaften von einer behutsamen Zeitlichkeit, mit einem langfristigen Blick verbunden. Ihre Intelligenz lehrt, die Ambivalenz, die Realität des Inkonsequenten und Widersprüchlichen auszuhalten. Das war die praktische Erfahrung der ‚Subalternen‘ des Kolonialismus: Sie versuchten, in den ‚Falten‘ der Strategie der Grausamkeit zu überleben, um ihr ‚historisches Projekt der Bindungen‘ zu erhalten. Das kommunitäre Subjekt der vor- oder postkolonialen Zeit akzeptiert die Gleichzeitigkeit von A und Nicht-A. Es ist die Überlebensstrategie der dekolonialen Kommunität.“

Die Utopie ist in so einem dekolonialen Sinn die Freiheit der Geschichte, ihre Offenheit und Unvorhersehbarkeit. Die weltweit stattfindenden Revolten destabilisieren Normen und Hierarchien, setzen an der Pragmatik der Vielseitigkeit an. Man kann in ihnen die „Schattenspiele eines archaischen Imaginären“ (Segato) erkennen, ihre Symbolik und Rituale.

Die Kolonial-Moderne und der Kapitalismus haben die Pluralität der Träume reduziert und vereinheitlicht. Für andere Arten des Glücks, des Genusses etwas beizutragen, d.h. für die Dauerhaftigkeit einer Welt, in der Bindungen der Freundschaft, des Respekts, der Solidarität etc. Priorität haben – für diese andere Welt ein Verständnis zu finden, wünsche ich mir auch von diesem Treffen.

Das Imaginäre und die Befreiung zusammendenken. Die Resonanzen erspüren und formulieren, die sich aus ihrer Reibung ergeben. Praktisch erfahren, dass Freiheit nur ohne repräsentierte Identität möglich ist – das sind die Lehren aus den anti-staatlichen Bewegungen. Das „Unrepräsentierbare bildet eine Gemeinschaft ohne Voraussetzungen und ohne Bedingungen der Zugehörigkeit“, hat Giorgio Agamben formuliert. Und auch, dass ein wahres politisches Leben erst „ausgehend von der unwiderruflichen Abwendung von jeder Souveränität denkbar“ ist, durch den Akt einer bewussten Inbesitznahme der eigenen „politischen“ Existenz.

Der Staat ist (auch gemäß Bourdieu) ein großer Fetisch, eine quasi-theologische Konvention, eine kollektive Fiktion. Aber die bewusste Inbesitznahme der eigenen Existenzbedingungen, der eigenen Wünsche, einer selbst organisierten Lebensweise erfordert die radikale Loslösung aus dieser Konvention. Sie erfordert unser Hineinwachsen in die subjektive Autonomie im unverzichtbaren Zusammenhang mit allen Wesen dieses Planeten. Sie erfordert die Bereitschaft, „das Andere“ in einem subjektiv-kollektiven Prozess anzunehmen. Darum geht es, in meiner Sichtweise, bei einem „Leben ohne tote Zeit und dem Genießen ohne Hemmungen“.

Dieser Beitrag wurde unter Dokumentation, Freitagabend, General veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.