Bulletin No. 1

Bulletin No. 1 als pdf

Vorwort

English below

Im Juli haben wir uns an euch gewandt und einen NON-Kongress 2024 angekündigt (Kommuniqué No. 1). Seither ist viel passiert. In Argentinien haben Menschen gegen Lithiumabbau die Straßen in Brand gesetzt, in New York zog die dystopische Luft der Waldbrände aus Kanada durch die Straßen, in Frankreich revoltierte die Jugend, weil einer von ihnen, Nahel, er­mordet wurde. Es gab Plünderungen und ein Aufbegehren, dass von den Herrschenden nur mit einer immensen polizeilichen Macht eingehegt werden konnte. Es ist aber nicht einmal sicher, ob diese Revolten auf ein Besseres verweisen. Sicher ist nur, dass in ihnen für ein Moment das Aufbegehren, der Wunsch nach Freiheit und Autonomie auflodert.

Zugleich gibt es nicht nur die Revolten, sondern auch die Kriege der Herrschenden. In der Ukraine ist er nun deutlich zu einem Stellungskrieg geworden, ohne dass die jeweils Herrschenden an ihm ermüden. So, wie hier die globalen Dimensionen von Interessens- und Machtbedürfnissen offenbar und sichtbar werden, verschwinden andere Kämpfe in furchtbarem Schweigen. Sind es zigtausende oder Millionen, die aus Pakistan in die Herrschaft der Taliban abgeschoben werden sollen? Und auch andere Regionen versinken in einen zerstörerischen Neuordnungsprozess: Erneut wird uns be­wusst, dass die deutsche Schuld an der Shoa niemals abgegolten werden wird und dass unsere Ver­antwortung, uns für sichere Räume für Jüd*innen einzusetzen, sich nicht abtrennen lässt von der daraus ebenfalls entstehenden Verantwortung gegenüber dem Leid der Palästinenser*innen und ihrem Recht auf Freiheit. Salam und Shalom.

Erst wenn alle Macht abgesetzt ist, haben wir die Chance auf ein gutes Leben für Alle. Eben darum glauben wir, dass es eine gemeinsame Verschwörung braucht, um unseren Teil dazu beizutragen, oder bescheidener, theoretisch und praktisch an der Herstellung der nötigen Bedingungen in der BRD zu arbeiten.

Uns haben bereits positive Rückmeldungen aus dem europäischen Ausland erreicht und Genoss*in­nen, Gefährt*innen, Freund*innen und Verschwörer*innen haben zugesagt, zu kommen. In der Zwischenzeit möchten wir in Vorbereitung auf unser gemeinsames Treffen nächstes Jahr mit euch Gedanken, Texte und Notizen teilen, die uns die letzten Jahre, Monate und Tage inspiriert, begleitet, theoretisch und strategisch orientiert, aber auch zum Widerspruch ermuntert haben. In Form dieses Bulletins, dem weitere folgen werden, wollen wir mit euch in ein gemeinsames Denken kommen und gleichzeitig unsere inhaltlichen Vorstellungen für den NON-Kongress transparent machen, auch wenn wir wissen dass die Bulletins nicht alles abdecken können, wollen und sollen.

Preface

In July, we reached out to you and announced a NON-Congress 2024 (https://nonkongress.noblogs.org/?p=23). A lot has happened since then. In Argentina, people have set fire to the streets against lithium mining, in New York the dystopian air of the forest fires from Canada has swept through the streets, in France the youth have revolted because one of them, Nahel, was murdered. There was looting and rebellion that could only be contained by those in power with immense police power. But it is not even certain whether these revolts point to something better. The only thing that is certain is that, for a moment, they spark a rebellion, a desire for freedom and autonomy.

At the same time, there are not only revolts, but also wars waged by those in power. In Ukraine, it has now clearly become a war of position, without those in power tiring of it. Just as the global dimensions of interest and power needs become apparent and visible here, other struggles disappear in terrible silence. Are there tens of thousands or millions to be deported from Pakistan to the rule of the Taliban? And other regions are also sinking into a destructive reorganization process: once again, we realize that Germany’s guilt for the Shoah will never be repaid and that our responsibility to work for safe spaces for Jews cannot be separated from the resulting responsibility towards the suffering of the Palestinians and their right to freedom. Salam and Shalom.

Only when all power is removed will we have the chance of a good life for all. This is precisely why we believe that a common conspiracy is needed to do our part, or more modestly, to work theoretically and practically to create the necessary conditions in Germany. We have already received positive feedback from other European countries and comrades, companions, friends and conspirators have agreed to come. In the meantime, in preparation for our joint meeting next year, we would like to share with you thoughts, texts and notes that have inspired, accompanied, theoretically and strategically oriented us over the past years, months and days, but also encouraged us to contradict ourselves. In the form of this bulletin, which will be followed by others, we want to get into a common mindset with you and at the same time make our ideas for the NON Congress transparent, even if we know that the bulletins cannot, do not want to and should not cover everything.

In diesem, unserem ersten, Bulletin findet ihr folgende Texte:

In this, our first, bulletin you will find the following texts:

Marcello Tarì – Brief an die Freunde der Wüste

Nun liegt auch dieser Text von Marcello Tarì vom März 2020 endlich auf deutsch vor, hoffentlich bald erscheint die deutsche Ausgabe von ‘There Is No Unhappy Revolutionan dessen Übersetzung derzeit von Genoss*innen gearbeitet wird. Wir danken den Gefährt*innen, die den “Brief an die Freunde der Wüste” für uns übersetzt und lektoriert haben, besonders Gianfranco Pipistrello. Sunzi Bingfa

Meine lieben Freundinnen und Freunde,

es gibt nur wenige Dinge im Leben, die, in einer Zeit wie dieser, tröstlicher sind, als Briefe an die einem am nahestehendsten Freunde zu schreiben. Ich hoffe, dieser Brief findet Euch so gesund und so schön vor, wie ich Euch in mir trage.

Einige von uns durchleben diese Tage mit großem Leid, aber die Freundschaft – das heißt, einander so nahe wie möglich zu sein – ermöglicht es uns, dieses Leid zu teilen und somit zu verringern, so­fern wir es wünschen. Das liegt ganz einfach daran, dass wir durch die Freundschaft mühelos in die Lage versetzt werden, das Leben eines anderen mitzuerleben. Eingesperrt, wie wir sind, müssen wir offener als je zuvor für den Wind der Freundschaft bleiben, der, wie wir wissen, über jede Entfer­nung hinweg zu wehen vermag.

Wie ihr zweifellos bemerkt habt, befinden wir uns seit ein paar Tagen oder Wochen (je nach Land) in einer Ausgangssperre, und das in einer Zeit, die in einer leicht beunruhigenden Koinzidenz auch die der Fastenzeit ist. Eine Zeit, die traditionell der Introspektion, dem Verzicht und vielleicht am Ende auch der Versöhnung gewidmet ist. Aber wer mich gut kennt, weiß, dass ich immer der Mei­nung war, dass es so etwas wie „Zufall“ nicht gibt und dass dieser nur eine Redensart ist, um sich zu beruhigen, ein Aberglaube, mit dem wir uns zwingen zu glauben, dass das, was geschieht, und die Art und Weise, wie es geschieht, für uns keine Bedeutung hat. Ich dachte also, dass diese Koinzi­denz zu den Zeichen der Zeit gehört, die wir zu deuten aufgerufen sind.

In den Evangelien wird berichtet, dass Jesus während dieser Periode vom Geist für vierzig Tage in die Wüste „getrieben“ wurde und dort in einer Zeit der Askese den Versuchungen des Teufels aus­gesetzt war.

Der Topos der „Wüste“ findet sich in mehreren Geschichten des Alten Testaments aufgeschrieben, und zuallererst natürlich als Teil des abenteuerlichen Auszugs des jüdischen Volkes auf der Flucht vor Verfolgung aus Ägypten. Es sind unterschiedliche Geschichten, aber alle zeigen, dass die Wüste eine „Prüfung“ darstellt. Natürlich ist es in unser aller Leben bereits vorgekommen, dass wir durch wüste Zeiten gegangen sind. Nicht immer ging dies gut und wir tragen Narben davon, zumindest ist das meine Erfahrung. Aber die Zeiten, aus denen wir gestärkt hervorgingen, sind diejenigen, die uns, wenn man darüber nachdenkt, erlauben, noch am Leben zu sein. Das Außergewöhnliche ist, dass manchmal, so wie heute, die Prüfung gleichzeitig individuell und kollektiv ist, so dass ganze Völker, wenn nicht sogar die gesamte Menschheit betroffen ist.

Wir also, die schon immer den unaufhaltsamen Fluss der Geschichte auf der Suche nach den Anzei­chen jenes Ereignisses, das ihn unterbrechen würde, verfolgt haben, können daher angesichts des­sen, was geschieht, nicht ungerührt bleiben. Ein außergewöhnliches Ereignis, das uns erkennen lässt, dass wir nicht genug Worte haben, um es zu beschreiben. Die Wüste beinhaltet auch die Ab­wesenheit von Wörtern, Reden, sich wiederholenden und angenehmen Klängen. Im Hebräischen haben übrigens die Ausdrücke für „Wort“ – dabar – und für „Wüste“ – midbar – dieselbe Wurzel und so lässt sich folglich vermuten, dass die Wüste gerade deshalb, weil sie ein wortloser Ort ist, sich am besten für die Offenbarung des Wortes als Ereignis eignet. Es geht zuallererst darum zuzu­hören, in sich aufzuräumen, um das Ereignis aufnehmen zu können. Aber worauf genau soll man hören? In einem Interview mit einer Nonne, das ich vor kurzem gelesen habe, sagte diese, dass das italienische Wort „obbedienza“ (also „Gehorsam“) in seiner etymologischen Bedeutung als „ob-au­dire“ („ge-horchen“) verstanden werden müsse: das heißt, als ein „entgegen etwas horchen„. „Auf die Realität hören“ sei die wahre Bedeutung des Gehorsams, schlussfolgerte sie in ihrem Kloster. Ich glaube, dass unsere Zeit zu einer solchen Übung aufruft.

In der Wüste gibt es keine Straßen und keine vorgezeichneten Wege, denen man einfach nur folgen könnte. Es ist die Aufgabe desjenigen, der sie durchquert, sich zu orientieren und einen Weg freizu­legen, der ihn nach draußen trägt. Es gibt in ihr auch keine Geschäfte, weder Wasserquellen noch Pflanzen. Alles scheint stillzustehen. Es gibt keine Produktion, keine Bars, keine (selbstverwalteten) Stadtteilzentren, rein garnichts von dem, was wir als Voraussetzungen dafür halten, einen Ort als „lebenswert“ zu betrachten. Man könnte kurzum sagen, dass es dort nichts Menschliches gibt, in der Wüste eine „brüllende Einsamkeit“ herrscht, wie es im Fünften Buch Mose heißt. Ich weiß nur zu gut, dass ein großer Teil unserer Epoche im Wesentlichen aus diesem Gebrülle und dieser Ent­menschlichung zu bestehen scheint, und ich verstehe das Misstrauen und das Entsetzen, das uns manchmal packt und uns zur Verzweiflung treibt. Die Vulgarität eines Großteils der „Musik“, die im Italien dieser Tage am frühen Abend von den Balkonen schallt, vermag dieses Heulen nicht zu übertönen. Es ist vielmehr dieses Geheul, das alles übertönt. Tatsächlich ist dies nur ein Ritual, das nach der Euphorie der ersten Tage bereits im Verschwinden begriffen ist: Viele verstehen, dass da etwas falsch klingt. Ob wir diesen Schrei in einen Gesang verwandeln können, hängt von unserer Sensibilität ab, davon, wie wir mit dem Geschehen umgehen. Wir dürfen uns nicht in Verzweiflung wälzen oder in Verleugnung erstarren. Es gibt viele Arten zu verzweifeln und zu leugnen, und oft scheinen sie durch die Unruhe, die sie bedingen und durch die sie vermittelt werden, ihre Gegentei­le zu sein. Lassen wir uns nicht reinlegen. Hören wir dem Lied der Wirklichkeit zu, ernsthaft.

Man muss daran denken, dass der Garten Eden – wie es weiter in diesen alten Büchern heißt – der erste Sieg über das Chaos der Wüste war. Dass er in der Tat dort in der Mitte gepflanzt wurde, wo es nichts gab, weder Sträucher noch Gräser, weder Flüsse noch sonst etwas. Und dieser Garten ist wahrhaft unvergesslich geblieben, als Verheißung des Glücks, nach dem wir streben: ein Ort der Fülle, an dem es weder Arbeit noch Ausbeutung gibt, wo alles mit allem im Gleichgewicht ist. In ihren besten Momenten hielten die Menschen dies für die einzige lebenswerte Existenz. Der Sieg in und über die Wüste bedeutet nichts anderes als die Möglichkeit eines Zugangs zu einem Leben, das wahrhaftiger, reicher, glücklicher und damit freier ist. Jeder von uns erlebt exakt in diesem Moment seine eigene Prüfung, und es ist nicht leicht, zwischen der körperlichen und der geistigen Prüfung zu unterscheiden, wie wir es gewöhnlich zu tun pflegen. Zweifellos ist dies die Gelegenheit, und zwar jetzt und nicht erst morgen oder weiß Gott wann, das zusammenzubringen, was wir normaler­weise als etwas Entzweites betrachten. Ihr wisst es besser als ich: Unsere Zivilisation war seit ihrer Geburt bis zu ihrer Entfaltung eine Zivilisation der Spaltung. Erlauben wir ihr heute nicht diese Trennung noch weiter zu vertiefen.

Die Wüste ist der spezifische Ort der Krisis; in der ursprünglichen Bedeutung dieses altgriechischen Wortes, das uns immer noch verfolgt: Wahl und Entscheidung. Meint Ihr nicht auch, meine Freun­de, dass wir heute alle an genau diesen Ort „getrieben“ werden? Ist der unausweichliche Mo­ment der Entscheidung nicht vielleicht für uns alle gekommen?

Und seid ihr nicht auch der Meinung, dass dies eine Entscheidung ist, die wir gemeinsam treffen sollten, ausgehend von uns selbst, und nicht jeder für sich selbst, ohne Rücksicht auf die anderen?

Die Wüste, von der ich spreche, ist der Ort der Prüfung. Nicht weil sie ein leerer Raum ist, sondern weil sie frei von all den Dingen ist, die die Existenzen künstlich schmücken, sie erleichtert und schmeichelt. Die Wüste ist frei von den Ablenkungen, die jeden von uns tagtäglich daran hindern, unsere eigenen Leben mit Klarheit zu betrachten. Sie ist demnach der Ort, an dem man konkret über das eigene Leben in der Welt nachdenken kann, und zwar von einem Ort aus, der im wahrsten Sinne des Wortes nicht von dieser Welt ist: frei von Überflüssigem, von allem, was wir für notwendig hielten, was aber im Gegenteil – jetzt, wo wir es endgültig wissen – plötzlich nicht mehr notwendig ist, weil es nie notwendig war. Umgekehrt lässt uns die Wüste die Sehnsucht nach all dem verspü­ren, was unserem Leben wirklich fehlt. Auf dem Weg, den wir mühsam in ihr bahnen, spüren wir dann die Abwesenheit von Gemeinschaft, von Gerechtigkeit, von Unentgeltlichkeit, von der wahren Gesundheit und natürlich auch das Fehlen der Person, die wir aus unserer Vertrautheit ausgeschlos­sen haben, ohne recht zu verstehen, warum. Oder der Person, die uns aus ihrer Intimität ausge­schlossen hat und die wir dennoch auf geheimnisvolle Weise weiterhin lieben. Ist dies der Durst nach Liebe? Man kommt nicht umhin, dies in jedweder Hinsicht zu bejahen. Einer von Euch hat mir vor langer Zeit gesagt, dass es sinnlos und auch nicht möglich sei, etwas gemeinsam zu tun, wenn wir uns nicht zumindest ein bisschen Gutes wünschen. Nicht das abstrakte Gute der Ideologie, son­dern das leibliche oder geistige Gut, das man in der Berührung spürt. Natürlich war es nicht immer leicht zu verstehen, worin dieses Gute besteht, und oft haben wir uns statt Gutes zu tun, selbst Scha­den zugefügt. Und tatsächlich sind die wenigen Wesen, die die Wüste dauerhaft bewohnen, immer gefährlich: Hyänen und Dämonen. Von Jesus wird jedoch gesagt, dass am Ende seiner Prüfung so­gar die Raubtiere, als wären sie Lämmer, an seiner Seite blieben (eine paradiesische Vorstellung). Wir müssen die Situation nutzen, um ein für alle Mal zu verstehen, was es bedeutet, einander zu lie­ben, ohne Ausflüchte, absurde Vermittlungen oder die Heuchelei, die uns beständig einander nicht beachten ließ. Ich habe den Eindruck, wenn nicht gar die Gewissheit, dass wir in dem Moment, in dem wir diese Wirklichkeit berühren und ihr gehorchen, „alles sein“ werden.

Auf diese Weise wird die Wüste zum Ort, an dem, durch Meditation und Prüfungen, sich der starke Geist eines Neuanfangs nachhaltig herausbildet. Wir haben nun die Möglichkeit einem Ritual zu entsagen, dass so tut als handelte es sich auch hierbei wieder um ein letztlich bedeutungsloses Zwi­schenspiel für uns und die Welt (und was abgenutzte und nutzlose Rituale angeht sind wir, sage ich Euch, große Experten) und den Schleier der Geschichte, der uns in einem bösartigen Traum gefan­gen hält, endgültig zu zerreißen. Darüber hinauszugehen, wie uns ein alter Weiser oft gesagt hat. In unserer Situation bedeutet dies, weit über die Pandemie hinauszugehen. Es bedeutet, gemeinsam auf eine andere Ebene unserer Existenz zu gelangen.

Abgehärtet durch die Wüste, im Besitz der spirituellen Kraft, die wir durch Entbehrungen und den siegreichen Kampf gegen die Dämonen erlangt haben, werden wir fähig sein, in die Welt zurückzu­kehren, begleitet von einer Macht, die nicht von dieser Welt ist. Eine Macht, die nun weiß, wie Je­sus dem Dämon, der ihn zuerst in die Versuchung führte, sagte, dass man nicht vom Brot allein lebt, sondern nur mit dem und durch das Wort, das materieller ist als die Materie. Die Versuchungen, de­nen Christus ausgesetzt war, sind die immerwährenden: Besitz, Machtspiele, Manipulationen. Verdinglichte Materie, die weniger als die eigentliche Materie ist. Gegen diese Versuchungen haben wir schon immer gekämpft. Genau aus diesem Grund sind wir Freunde geworden. Erinnert ihr euch?

Es ist dieses Wort, das uns in diesen Tagen beschäftigt, einen jeden an seinem Ort, eingesperrt in seiner Wüste, durchzogen von seinem eigenen Leid. Stille Ecken, die vielleicht die einer wiederge­wonnenen Intimität sind, die aber alle zusammengenommen eine einzige riesige Wüste bilden, die sich wie eine gigantische Begegnung mit der Wirklichkeit darstellt. Denn die Wüste, von der ich spreche, sind nicht die leeren Straßen der Großstadt (diese ist immer leer und traurig, selbst wenn ihre Straßen voll sind, alles schnell dahinfließt und sie uns hauptsächlich krank macht), sondern der wilde Raum, der uns dem Wort aussetzt und in dem wir eine Versuchung nach der anderen bekämp­fen. Ich selbst kenne viele der Versuchungen, mit denen Ihr in diesen Tagen kämpfen müsst, denn sie waren auch meine, und sind es zum Teil immer noch. Ihr wisst, worauf ich mich beziehe. Eine entscheidende Lehre Jesu in der Wüste besagt jedoch, dass man mit dem Teufel nicht in den Dialog tritt, niemals, denn wenn du dich einmal darauf eingelassen hast, bleibst du sein Gefangener, so schlau du auch zu sein glaubst. Seine Rede, seine Rhetorik, seine Verführungskunst sind wie Gitter­stäbe, die sich um dich herum schließen. Wie oft haben wir erlebt, dass diese Gitterstäbe alte Freun­de für immer von uns fernhalten…

Von Tag zu Tag verwandeln sich unsere Behausungen mehr in Fragmente einer wüsten Landschaft, bevölkert von wilden Tieren, einer beispiellos tiefen, doch bewohnbaren Stille und die Anwesenheit von Dingen, die wir gewöhnlicherweise nicht wahrnehmen, zu überfordert von einer Unzahl ande­rer, weitgehend nutzloser Dinge. Die Herausforderung besteht darin, die richtige Anwesenheit zu er­kennen, die gute, die heilende, und die schlechte zu vertreiben, also jene, die dich krank macht, die dich belügt, um dich zum Lügen zu bringen, die dir befiehlt, dich vor ihr niederzuknien im Aus­tausch für mehr Macht, mehr materiellen Dingen, mehr von der herrschenden Welt, mehr Anerken­nung und so weiter. – Die Wüste lässt uns das Mögliche und das Unmögliche unterscheiden.

Die Wüste ist übrigens der Ort, an dem sich die ersten Mönche („Einsiedler“) einfanden, die sich von einem ungerechten und dekadenten Reich abwandten. Zunächst in kleiner Zahl, dann aber über Monate und Jahre erst Hunderte und dann Tausende wurden und so begannen, Gruppe für Gruppe, in Klöstern zusammenzuleben, wobei das Koinobitentum nichts anderes bedeutet als das, wonach auch wir immer gesucht haben: Ort des gemeinsamen Lebens. Damals wie heute war die Wüste also eine Prüfung, die sowohl den Einzelnen als auch die Gemeinschaft betraf. Um diese Klöster herum bildeten sich andere Gemeinschaften und schließlich Städte, die ihre geistige Kraft aus den Klöstern bezogen. Von diesen Einsiedlern aus, die von etwas Bestimmten beseelt waren, sich in die Wüste zurückzogen und in einer Gemeinschaft lebten, in der alles gemeinschaftlich geteilt wurde, entstand auf diese Weise eine neue Zivilisation. Jene, die sich später im Laufe der Jahrhunderte verlor, weil sie den Kontakt zu ihrer Wahrheit verlor und mit der Zeit immer mehr vor den Dämonen des Kapi­talismus niederkniete, und die heute ihr Leben aushaucht. Das Problem ist, dass sie uns mit sich in ihre Hölle reißen will.

Diese Zivilisation endet nicht durch den Coronavirus. Ich denke, es ist jedem klar, dass dieser nur eine Begleiterscheinung ist. Diese Zivilisation endet wegen ihrer Arroganz, ihrer unersättlichen Gier, ihrer Ungerechtigkeit, weil sie die Welt in eine gigantische morbide Fabrik verwandelt hat. Was hätte anderes als ein Dämon der totalen Zerstörung aus einer Zivilisation hervorgehen können, die das Geld zum absoluten Götzen und die Macht zum letzten Ziel aller Dinge und aller Existenz erhoben hat?

Wenn wir einmal aus der „Notlage“ und aus unserer Wüste herausgetreten sind – denn wir müssen den Aufenthalt in ihr immer nur als einen vorübergehenden betrachten – dürfen wir nicht zulassen, dass dies nur eine Zwischenspiel, voll von Leiden und Tod oder auch von Entdeckungen und denk­würdigen Momenten, gewesen wäre, auf das eine Rückkehr zur vorherigen Normalität folgen wür­de. Denn es ist genau diese Normalität, die uns an den Punkt gebracht hat, an dem wir uns befinden, und die nur durch eine Vertiefung der Zerstörung fortgesetzt werden kann. Und zu dieser Normalität gehört auch die Normalität unserer früheren Lebensweise, oder besser gesagt, unsere Art zu überle­ben und uns etwas vorzumachen. Ich sehe, dass viele von uns verzweifelt versuchen, ihre eigene Normalität zu bekräftigen. Das ist nicht gut. In aller Freundschaft: Das ist es schlicht nicht wert!

Aber wir müssen auch auf die Normalität danach achten, die uns als die neue Notwendigkeit präsen­tiert werden wird und die aus Verboten, Unfreiheit und neuem Egoismus bestehen wird. Und dies „alles zu unserem Besten“. Oder was uns aus dem Stehgreif fantasierende Propheten als das Gefüge der neuen Welt verkünden werden, identisch mit der vorherigen, bloß mit anderen Regierenden.

Stattdessen sollten wir die Geste der Loslösung der ersten Mönche wiederholen: uns von der deka­denten Zivilisation der Zerstörung abspalten, andere Gemeinschaften errichten. Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, warum wir das nicht bereits getan haben, wir dazu nicht in der Lage sind. Was uns bislang davon abgehalten hat, es erneut zu versuchen, und ich konnte mir selbst keine befriedigenden Antworten geben. Einem von Euch wird es voraussichtlich gelingen, eine solche Antwort vorzuschlagen. Vielleicht fange ich an, eine zu erahnen, die wir bisher noch nicht in Be­tracht gezogen haben. Aber auf jeden Fall verdient diese Zeit, in die uns der Ungeist der Welt „ge­trieben“ hat, meiner Meinung nach, eine echte Antwort. Und zwar von unserer Seite. Eine, die aus der Stille kommen könnte, die wir bewohnen, aus der Einsamkeit, die wir erleben, aus dem Bösen, gegen das wir kämpfen. – Was werden wir tun, was werden wir sehen, wenn wir aus der Wüste kommen?

Nachdem er die Wüste verlassen hat, verkündet der Nazarener, dass das gelobte Reich nun nahe sei. Ich habe diese Nähe nie im zeitlichen Sinne einer nicht allzu fernen Zukunft aufgefasst, die übri­gens niemand je berechnen könnte, sondern als etwas, das sich in oder nahe bei uns befindet, wie man es eben über einen einem nahe Stehenden sagt.

Über diese Nähe brauchen wir, glaube ich, nicht weitere Worte verlieren, um uns zu verständigen.

Ich umarme Euch und hoffe, bald von Euch zu hören.

Herzliche Grüße,

Marcello

Breaking the Waves — Nicolò Molinari

Vorwort [dt. Übersetzung]

Der im Juni 2023 bei Ill Will erschienene Essay ‘Die Wellen brechen’ von Nicolò Molinari widmet sich detailliert einigen zunächst recht unterschiedlichen Aufstandserscheinungen der letzten 5 Jah­re. Die Herangehensweise ist weitgehend immanent und die Sprache mitunter sperrig, aber im Ganzen beweist der Autor gute Kenntnisse der revolutionären Alchemie. Man mag einwenden, daß er sehr an der Form der verschiedenen Aufstände hängt, weniger ihren Inhalt behandelt. So werden bei den jüngsten Auseinandersetzungen um das Rentengesetz in Frankreich kaum die Fragen ge­stellt: Will man tatsächlich 60 statt 62 Jahre arbeiten oder vielleicht doch das Lohnsystem selbst angreifen? Will man die Formen der alten Demokratie vor übermäßigem Autoritarismus bewahren oder doch den bürgerlichen Staat und seine biopolitische Verfügungsgewalt über seine Subjekte im Ganzen verneinen? Tatsächlich verwundert es, dass von radikalen Kräften Frankreichs keine offen­sive Agitation in diesen Fragen geführt wird, was schließlich ihrer mitunter überbordenden Aktion etwas Substanz verleihen könnte. Aber manches ist verwunderlich an den französischen Radikalen. Ein Text wieder, der explizit in solche Kämpfe eintaucht, ohne ihnen gleich alternative Losungen unterschieben zu wollen, da ein solches Unterfangen doch schnell zum Immergleich der verschiede­nen linken Vereinahmungsversuche führen würde, kann nicht anders, als den Abstraktionen der wirklichen Kämpfe zu folgen, während die ersehnte Überwindung der bestehenden Produktionsver­hältnisse implizit oder angedeutet bleibt und in diesem Essai in der vagen Phrase von der „Schaf­fung neuer Formen des Lebens“ verschwindet. Und eine offensive Agitation prinzipiellen Inhalts in allen Ehren: Jede Wahrheit braucht zunächst ein gewisses eruptives Moment, um als solche er­scheinen zu können. Im Moment der Eruption selbst ist sie wieder unmöglich zu formulieren, da man dann in der Regel Besseres zu tun hat, und so lassen sich erst nach wirklichen Auseinanderset­zungen alle Fragen besser stellen, auch die nach dem Sinn und Unsinn von Lohnarbeit oder des Staates. Je stärker der augenblickliche Bruch mit den gegebenen Formen, desto offener wird dabei jemand sein, die überkommenen Kategorien der alten Welt abzulegen und auf Ideen zu kommen, die im akzeptierenden Alltagstrott nur albern wirken. Daher das momentan überwiegende Interesse des revolutionären Alchemismus an strategischen Fragen. Im Zentrum steht dabei weniger, wie über­haupt Brüche mit dem Bestehenden erzeugt werden können, da diese inzwischen an allerlei Orten quasi spontan und momentan besseren Falls ohne politisches Zutun entstehen und vorausgesetzt werden können. Vielmehr geht es darum, wie man ihnen eine gewisse Dauer verleihen kann. In die­sem Zusammenhang wird in dem Text neben der „Strategie der Zusammensetzung“ und der „terri­torialen Basis“ gesellschaftlicher Kämpfe auch die Strategie der „Destitution“ oder vielleicht bes­ser der „Entsetzung“ entfaltet, die insbesondere den Rückzug einschließt, um falsches Märtyrertum zu verhindern und Raum für Pausen zu gewähren und damit Platz zur Besinnung.

Komposition

Kürzlich stellte ein Text von Temps critiques (1) Überlegungen über die generationsübergreifende Zusammensetzung der wachsenden Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich an. Diese be­gann dort nämlich, in Erscheinung zu treten, während sie bei der Bewegung der Gilets jaunes noch fehlte. Die Autoren beschreiben, was sie eine alliage nennen, eine Legierung der Umstände, die durch die vorübergehende Fusion verschiedener gesellschaftlicher Fragmente herbeigeführt wird. Diese Kategorie erinnert an das von Endnotes benannte ‚Problem der Zusammensetzung‘ in den jüngsten Bewegungen (2). Ganz unterschiedliche junge Leute haben dem Kampf einen neuen An­stoß gegeben, was zu einem kraftvollen Anwachsen des cortège de tête in den Dynamiken der Aus­einandersetzung mit der Polizei führte. Die Gewerkschaften verloren dadurch die Kontrolle über die Plätze. Zur selben Zeit hat die Jugend die Rolle von Schul- und Universitätsbesetzungen neu defi­niert, indem sie die Besetzungen in Operationsbasen für Aktionen verwandelten, die sich dann über die Städte verbreiten konnten. Auf diese Weise änderte sich die Bedeutung der Besetzungen: Indem die Studenten dieser klassischen Praxis ihres Repertoires eine neue Form gaben, dienten sie anders als in vergangenen Bewegungen nicht mehr der Wiederaneignungen der Bildungseinrichtungen, sondern waren in der Lage, sich mit der Bewegung gegen die Rentenreform zu verbinden. In die­sem Sinne müssen wir von einer alliage sprechen, die sich sowohl gegen die konzentrierte Macht von Macrons Staat als auch gegen die dezentralisierte Macht der Wirtschaft stellt.

Die konfliktgeladene Form der Mobilisierung im März in Frankreich, die direkte Aktionen und Blo­ckaden bevorzugte, hängt sowohl mit dieser kompositorischen Anordnung der verschiedenen betei­ligten Akteure zusammen als auch mit den Schritten Macrons. Der Rhythmus der Bewegung entwi­ckelte sich als Antwort auf Macrons ‚Coup‘, der, indem er sämtliche übliche institutionelle Opposi­tionsformen wie Gewerkschaften und Parteien überging, einzig die direkte und unvermittelte Oppo­sition übrig ließ. An diesem Punkt konnten die Jugend und alle ‚radikaleren‘ Fraktionen der Bewe­gung ihren Platz finden und die Mobilisierung aufrütteln, indem sie ein Repertoire von Praktiken ins Zentrum rückten, das sich aus Straßensperren, Streikposten, schwarzen Blöcken und wilden De­monstrationen zusammensetzte.

Ein Text, der am 11. April auf Lundi matin erschien (3), macht drei Momente der Mobilisierung aus: zunächst (als die Reformen von der Regierung noch debattiert wurden) eine vereinte Mobilisie­rung durch die Gewerkschaften, dann eine Kombination aus Streiks, Blockaden und Streikposten in den Schlüsselbereichen der Wirtschaft, und schließlich, infolge der erzwungenen Verabschiedung der Rentenreform, das starke Anwachsen und die Ausbreitung autonomer, nächtlicher Ausschreitun­gen sowie Blockaden der Verkehrswege. Den Autoren zufolge hatte die Mobilisierung nur in dieser dritten Phase die Möglichkeit, aus dem reaktiven, ihr von der Regierung vorgegebenen Muster aus­zubrechen und über die Untiefen der republikanischen Demokratie sowie die vermittelnden Organi­sierung der Gewerkschaften und Parteien hinweg zu springen, um ansatzweise mit Neugruppierun­gen zu experimentieren.

Angesichts der Unwirksamkeit der Gewerkschaftsstreiks in der Geschichte (selbst wenn diese zum ‚Generalstreik‘ wurden), nahm die Praxis der Blockade eine größere Bedeutung ein. Diese Blocka­den – die Hauptverkehrsstraßen und strategische Orte wie Busbetriebshöfe, Raffinerien und Abfall­sortierzentren umfassten – hatten die Tendenz, den Konflikt zu dezentralisieren und die militärische Dynamik der direkten Konfrontation mit der Polizei zu durchbrechen. Das bewahrheitete sich ins­besondere, wenn sie unerwartet in verschiedenen Teilen der Stadt aus dem Boden schossen und das Geschäftsleben lähmten. Diese Form eröffnete einer zu Beginn noch komplett vom Gewerkschafts­verband kontrollierten Bewegung einen anderen Rhythmus.

Raum und Ort

Diese Texte deuten an, daß die Organisierung von kämpfenden Blöcken und Aktionen dort am fort­geschrittensten war, wo die Mobilisierung Koordinationsformen entwickelte, die außerhalb des ge­werkschaftlichen Rahmens operierten und dabei in direkter Verbindung mit den entschlossensten Teilen der Gewerkschaftsbasis blieben. Das was als ‚Operation Geisterstadt‘ (Ville morte) bekannt wurde, eine Serie von lähmenden Blockaden, die in Rennes, Nantes und Lyon stattfanden, bezeugt das Entstehen einer selbständigen Stoßrichtung innerhalb der Mobilisierung. Diese besitzt die Fä­higkeit, eine revolutionäre Subjektivität zu entwickeln, die sich zu einem Widerspruch gegen den Staat kristallisiert und dabei die Vermittlung durch die Gewerkschaften umgeht. Die Herausforde­rung dieser Subjektivität liegt in der Notwendigkeit, ihre Fähigkeit zur Mobilisierung, Koordinie­rung und Intervention innerhalb ihrer Blöcke beständig neu zu erfinden, ohne dabei die Verhärtung und Verkalkung ihrer Taktiken und ihrer Strategie zu erlauben. Andernfalls würden sie für die Poli­zei leichter durchschaubar, was den Verlust des strategischen Vorteils für die Bewegung bedeutete.

Um sich dieser Herausforderung zu stellen, müssen die Kämpfe eine territoriale Basis entwickeln – sei es auf der Ebene eines Stadtteils, in einer ganzen Stadt oder sogar regional –, die es ihnen er­möglicht, Wirtschaftskreisläufe und Verkehrsflüsse zu unterbrechen, ohne der Polizei die Wiederge­winnung der Kontrolle über die Infrastruktur und die Bewegungen zu erlauben. Um eine gewisses Effektivitätsniveau zu erreichen, wird eine territoriale Dimension immer wesentlich sein. Obwohl sich beispielsweise die Bildung konfliktgeladener Räume in der Bewegung gegen die Rentenreform auf studentische Besetzungen und Blockaden beschränkte, könnten sie jenseits ihrer rein operativen Funktion auch zu Treffpunkten für eine Reihe verschiedener Subjektivitäten werden und eine Bei­trag zum Aufbau eines ethischen und praktischen ‚Wir‘ leisten. Die Kreisverkehrsbesetzungen der ersten drei Monate des Aufstands der Gilet jaunes sind bis heute das fortgeschrittenste Beispiel ei­ner solchen simultanen Kombination von konfliktgeladenen Formen, die in der Lage sind, die Ver­kehrsflüsse zu unterbrechen, mit einem raumgebenden Impuls, der ein Außen herstellt.

Das Schaffen von Orten gehört zur grundsätzlichen Grammatik aller neueren Bewegungen, von der Bewegung der Plätze in Europa bis hin zum George-Floyd-Aufruhr 2020 in den USA. Infolge der amerikanischen Occupy-Bewegung beriefen sich einige Genossen auf die Kategorie der ‘aufständi­schen Kommune’ (4), um ansatzweise theoretisch zu fassen, wie diese durch Kämpfe geöffneten Orte mit Formen der gesellschaftlichen Reproduktion außerhalb der Kapitalkreislaufs experimen­tierten. 2020 wurden von Seattle bis Atlanta ganz ähnliche autonome Zonen geboren und versucht, polizeifreien Gebieten Leben zu geben. (5) Wenn sie auch nicht frei von zahlreichen Schwierigkei­ten waren, zeigen diese Erfahrungen doch, daß die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nicht ausschließlich Sache der Polizei ist, da die gegnerische Rolle häufig von Teilen der Bewegung ein­genommen wird.

Egal, ob man nun diese jüngeren Bewegungen aus einer marxistischen Perspektive (zum Beispiel der Kommunisierungstheorie) oder einer moralischen betrachtet, bildet die Schaffung von Orten, die sich von der staatlichen oder kapitalistischen Kontrolle des Gebiets abspalten und sich ihr wi­dersetzen, das Element, welches verschiedenen Subjektivitäten den Aufbau einer geteilten und mög­licherweise andauernden Grundlage ihrer Existenz ermöglicht. Der Niedergang programmatischer Politik wie auch einer Politik, die durch gesellschaftliche Stellvertretungsmodelle die Integration in die Räume der klassischen politischen Sphäre sucht, läßt eine Leere entstehen, die allmählich durch den Aufbau neuer nicht-souveräner Territorien gefüllt wird. Der Niedergang einer auf Forderungen aufbauenden Politik, macht den Weg für eine neue politische Geographie frei, bei der es um die Schaffung neuer Formen des Lebens geht, um Orte, die schon ehe sie sich materialisieren ethisch sind, ein Gewebe beweglicher und nicht verdingbarer Beziehungen.

Der Punkt ist nicht, daß physische Orte nun die wichtigste Stütze der gegenwärtigen Bewegungen geworden sind, sondern nur, daß ihre materielle und strategische Infrastruktur auf diesen beruht. Wenn wir den Begriff ‘autonome Zone’ so verstehen, daß er sich auf ein Gebiet bezieht, das von der Region um sie herum nicht mehr abhängig ist – nun, eine solche Sache existiert nicht wirklich. Ebensowenig handelt es einfach um eine Frage der Anwendung eines formalen Verwaltungsmo­dells, so als ob ‘Selbstverwaltung’ oder eine Praxis des Geschenkegebens notwendigerweise schon eine antikapitalistische Orientierung charakterisieren müßten. Noch weniger handelt es sich um Souveränität und Unabhängigkeit, um das Ersetzen der staatlichen Hoheitsgewalt mit einer anderen staatsähnlichen Hoheitsgewalt, vor allem, wenn man an die anderen gleichermaßen schrecklichen Formen denkt, die bei solchen Versuchen hervorgebracht werden können. (6) In Wahrheit geht es bei ‘Autonomie’ als einer strategischen und revolutionären Frage nicht primär um Selbstverwaltung oder eigene Herrschaft. Sie ist vielmehr eine Spannung oder ein Problem, das nur innerhalb eines dynamischen Ortes eines fortgesetzten Konflikts erwächst: Ein Kampf bleibt ‘autonom’, so lange er seine Fähigkeit erhält, beständig neue offensive und antagonistische Formen zu erzeugen.(7) Aus dieser Sicht sind Orte, an denen wir alternative Formen der Organisation und sozialen Reproduktion entwickeln können, offensichtlich hilfreich, aber ihr Entstehen sollte nicht als Endpunkt oder Kul­mination des Kampfs verstanden werden.

Gebietskämpfe

Der George-Floyd-Aufstand 2020 oder die Gilet jaunes in den Jahren 2018 und 2019 waren Mo­mente einer massiven Mobilisierung: Aufstände, die Momente eines Bruch markierten. Sie ent­sprangen weder anwachsenden und über sich hinausgehenden sozialen Kämpfen (8), noch stellten sie die Umsetzung irgendeines Programms dar. Dennoch erzeugten sie auf der subjektiven Ebene die Art von biographischem Bruch, die eine Rückkehr zu einem von solchen Momenten intensiven Kampfs freien Alltagsleben noch unerträglicher machen. Wer einmal von einer revolutionären ethi­schen Spannung bewegt wurde, kann nur noch schwer akzeptieren, daß er auf den nächsten unvor­hersehbaren Aufstand warten soll, in den er sich dann reinstürzen kann. Als Antwort darauf können organisatorische Fragen entstehen: Wie können wir von diesen Aufständen lernen und zur selben Zeit durch Momente der Ebbe kommen? (9)

Hugh Farrell erkennt in Gebietskämpfen eine Form, die der Konflikt in Zeiten der starken Ebbe und der allgemeinen Reaktion annehmen kann und die bestimmte Charakteristika mit den Massenauf­ständen der Gegenwart gemeinsam hat. (10) Wenn wir teleskopisch auf das letzte Jahrzehnt blicken, sehen wir, wie es territoriale Kämpfe in verschiedenen Teilen der westlichen Welt geschafft haben, disparate Subjektivitäten in der Verteidigung eines Gebiets zu verbinden und einen neuerlichen Im­petus zu dessen Bewohnung und Neuaufbau zu geben. Das zeigt sich am No-TAV-Kampf im Susa-Tal, an der ZAD in Notre-Dame-des-Landes, am NoDAPL-Kampf in North Dakota wie auch für neuere Konflikte – wie gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline oder die Bewegung Stop Cop City in Atlanta.

Wie das Territorium die Vektoren vorgibt, um die herum sich der Kampf artikuliert, wird es von den hier initiierten Zusammensetzungsprozessen reflektiert. Aus diesem Grund bestimmt sich das hier in Frage stehende ‘territoriale Element’ sowohl physisch – es betrifft bestimmte zu verteidigende Orte oder zu blockierende Megaprojekte – wie auch affektiv. Das bringt einen Prozess der beständigen Neudefinition und Transformation mit sich, den die den jeweiligen Ort bevölkernden Menschen hervorbringen. (11) So hat zum Beispiel die unter dem Namen Les Soulèvements de la Terre (‘Auf­stände der Erde’) bekannte Bewegung versucht, eine Verbindung zwischen verschiedenen Subjekti­vitäten zu entwickeln, die in mancher Beziehung der oben beschriebenen Bewegung gegen die Ren­tenreform ähnlich ist. In diesem Fall setzt sich das Gewebe aus Bauern, Landbewohner, ‘ZADisten’ und die ‘Klimageneration’ zusammen, zusammengebracht durch eine Reihe von Gebietskämpfe quer durch Frankreich – der berühmt-berüchtigste davon fand gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline statt.

Auch im Kampf in Atlanta, der sich unter dem Slogan ‘Stop Cop City / Defend the Forest’ zusam­mengefunden hat, zeigte sich ein territoriales Element. Da der umkämpfte Ort sich nicht in einer ländlichen Gegend befindet, sondern ein Wald innerhalb Atlantas ist (einer Stadt, die selbst inner­halb eines Walds liegt), hat sich die Zusammensetzung eher aus verschiedenen lokalen Jugendsub­kulturen ergeben, die extrem lebendig sind (Aktionswochen finden oft zusammen mit Musikfesti­vals statt). Diesen haben sich anarchistische und ökologische Elemente aus dem ganzen Land eben­so angeschlossen wie lokale politische Gruppen, etwa Stadtteilaktivisten, Assoziationen zur Ab­schaffung der Polizei (die versuchen, den Ausschreitungen der 2010er und 2020er Jahre eine Konti­nuität zu geben) und religiöse Gemeinden.

Die Kämpfe in Atlanta und Sainte-Soline teilen mit den meisten Klimabewegungen keine gemeinsa­me Grammatik, da letztere größtenteils zu friedlichen Demonstrationen und symbolischen Aktionen tendieren, mit dem Ziel ‘Awareness’ für die Klimakrise zu kultivieren. Deren strategischer Horizont räumt dem Stellen von Forderungen an diverse Institutionen die Priorität ein, unter Zurückweisung der Möglichkeit, alternative Lebensweisen hervorzubringen. Es handelt sich hierbei letztlich um ei­nen gefährlichen Wunsch nach dem unverschränkten Schrecken eines ‘Klimaleviathans’ von dersel­ben Sorte, wie ihn der grüne Pseudo-Leninist Andreas Malm fordert.

Es lohnt sich, festzuhalten, daß – während sich in ‘Nicht-Bewegungen’ wie den Gilets jaunes oder den Kämpfen um die Rentenreform von 2023 der Prozess der Zusammensetzung unabhängig von irgendeiner expliziten Intention Seitens der einzelnen Segmente ergab – man in Atlanta oder Sainte-Soline explizit und absichtlich eine Strategie der Zusammensetzung verfolgte (wenn auch nur durch einem Teil der einzelnen Elemente), die von bestimmten vorher existierenden politischen Netzwer­ken vorangetrieben wurde. Eine solche Strategie zielt durch die Kooperation verschiedener Gruppen darauf, gemeinsame Ziele auszusprechen und Aktionen zusammenzustellen oder zu ‘komponieren’, die den Widerspruch eskalieren und intensivieren. Auch wenn dieser Prozess zeitweise den Ein­druck einer Legierung oder Fusion verschiedener Gruppen erwecken kann, versucht man letztlich, die jeweiligen Unterschiede im Verlauf des Kampfes zu konservieren, wenn auch ohne der skleroti­schen Tendenz zu verfallen, Reflexionen über Identität gegenüber dem Sieg im Kampf selbst zu prio­risieren.

Im Unterschied zu Massenaufständen sind territoriale Kämpfe nicht einfach moralische Notstände der Verweigerung, sondern verkörpern stattdessen die Schwelle zwischen dem Moralischen und dem Politischen. Dadurch ergeben sich relevante Fragen der Organisation und Strategie für jeden, der sich fragt, wie der Kampf revolutionär werden kann. (12) Wie vermeiden wir die Fallgruben ei­nes leninistischen Avantgardismus, ohne der gegenteiligen Gefahr zu verfallen: zum bordigistischen Zuschauer zu werden, der Bewegungen nur äußerlich von der Seitenlinie interpretiert? Wie kom­men wir zu einer Logik, in der die Teilnehmer sich nicht nur als integrale Teile eines spontanen Pro­zesses erkennen, in dem sich allmählich eine Strategie entwickelt, sondern sich ihrerseits zum Ein­bringen von Gesten ermächtigt fühlen, die die Grundlagen und Prozesse ändern, ohne dabei zu ver­suchen, diese Gesten oder ihre Bahnen zu kontrollieren, vielmehr zuzulassen, daß diese von anderen reproduziert werden?

Ein aktueller Text (13) über die cortèges de tête erinnert uns, dass sogar zahlenmäßig kleine Assoziationen gelegentlich erfolgreich Taktiken einbringen können, die den gesamten strategischen Plan eines Kampfes verändern oder sogar destabilisieren. Manchmal ist Destabilisierung genau das, was eine Bewegung braucht, um davor gefeit zu sein, zu versteinern oder in einer Sackgasse ste­cken zu bleiben. Sie stärkt die Fähigkeit der Bewegung, Konflikte auszuhalten, erweitert ihren takti­schen Horizont und nährt ihre kreativen Fähigkeiten.

In gewisser Hinsicht ist das die Wette von Adrian Wohlleben in seinem Essay ‘Memes without End’ (14): Durch die Einführung von Gesten, die sich über die sie initiierenden Subjektivitäten hinaus ausbreiten und vervielfältigen, können kleine Gruppen in bestimmte sozialen Bewegungen interve­nieren und sie aus deren intern verfestigten Bedingungen hinausbugsieren und dadurch ihren Hori­zont für eine radikale Veränderung erweitern. Um Kämpfe oder militante Gruppen aus ihren Sack­gassen des Reformismus oder des Märtyrertums herauszubringen, ist es entscheidend, die Verfesti­gung ihrer Taktiken zu verhindern, jede exklusive Kontrolle über die Praktiken zu untergraben und gegen die Zentralisierung der Strategie zu arbeiten.

Sackgasse

Die Sackgasse, in der viele der Kämpfe der jüngeren Zeit stecken, besonders jene von ‘Aufstände der Erde’, scheint derjenigen sehr zu ähneln, mit der die Mobilisierung gegen die Rentenreform konfrontiert war: Die Kristallisation eines Antagonismus, die den Kampf in einer wesentlichen Dia­lektik mit dem Staat befestigt. Die Stabilisierung einer solchen Dialektik läuft zweierlei Gefahr, in eine Sackgassensituation zu geraten: zunächst die einer Wiedereingemeindung (Rekuperation), Ent­kräftung oder Deeskalation des Konflikts, einschließlich der Möglichkeit einiger Konzessionen oder eines Teilsiegs wie im Fall des ZAD (15); und dann die eines symmetrischen Konflikts, der unmit­telbar in einer hoch militarisierten direkten Konfrontation enden kann.

Wenn wir den Blick uns selbst zuwenden, unserer Subjektivität, laufen wir Gefahr, unsere Beteili­gung an der Bewegung in eine Art entfremdeter Militanz zu verfestigen, die uns von dem trennt, was Bordiga ‘die historische Partei’ (16) nennen würde, oder dem, was wir auch die wirkliche Be­wegung nennen können. Diese Trennung (die bolschewistische), die an der Spitze der Bewegung ei­ne Avantgarde sieht, die die Bewegung organisiert, und die im ganzen zwanzigsten Jahrhundert als wichtige taktische und strategische Formel gedient hat, hallt heute in all diesen Bewegungsstrategi­en wieder, die darauf abzielen, Gegenmächte oder Gegensubjekte zu konstruieren, ohne zu realisie­ren, daß die Macht, gegen die sie opponieren wollen, keine spezifische Konsistenz hat und in wich­tigen Hinsichten ‘anarchisch’ (17) ist.

Zudem übersehen diese Analysen den ganz und gar entscheidenden Fakt, daß die Aufstände von heute eine völlige Abwesenheit irgendeines politischen Massensubjekts aufweisen, das fähig wäre, den Konflikt zu zentralisieren. Dieses wurde durch eine Fragmentierung von Massensubjektivitäten ersetzt. Die resultierenden Konflikte werden durch eine Reihe ethischer Spannungen zerrissen, ohne daß eine gemeinsame ideologische, diskursive oder programmatische Grundlage gefunden würde. Von Hong Kong über Chile bis zu den Gilets jaunes ist das revolutionäre ‘Wir’ zu einem erfah­rungsbasierten und ethischen ‘Uns’ verfallen, ohne gemeinsame Sprache. Doch genau aus diesem Grund ist sie kaum für die traditionellen Rekuperationstechniken anfällig, die der klassischen Poli­tik zukommen. Jeder, der sich vorzustellen versucht, wie die Konflikte unserer Zeit echte Revolutio­nen werden könnten, muß sich mit dieser Realität herumschlagen und die Nostalgie für (oft mystifizierte) alte Epochen aufgeben, in denen ein Massensubjekt den Motor der Kämpfe bilde­te. Wir leben in einer Epoche, in der Klasse keine soziologische oder politische Einheit mehr findet, sondern nur eine ethische und subjektive, geformt in und durch den Moment des Aufstands. Klasse ist von einer Reihe von Vektoren durchzogen, die sie sozial fragmentieren; ‘Identitätspolitik’ ist da­bei nur eine symptomatische Form.

Statt künstlich neue soziale oder politische Einheiten zu inszenieren, muß jeder revolutionäre Kampf mit dieser sozialen Fragmentierung und der anarchischen Natur der gegenwärtigen Macht zurechtkommen. Anders als die Fantasie einer ‘konstituierenden Macht’ oder einer ‘Gegenmacht’ ist die Option der Destitution die einzige, die fähig ist, inmitten einer Realität, in der die Illusionen for­meller politischer Repräsentation zu reinen Trugbildern verkommen, eine revolutionäre Strategie vorzuschlagen. Unter solchen Bedingungen bleibt einem Antagonismus, der sich damit zufrieden gibt, die Trugbilder seiner Gegner zu spiegeln, nur der Amoklauf. (18)

Das Kapital drückt sich, indem es sich verselbstständigt hat und in die Phase seiner wirklichen Herrschaft eingetreten ist, nicht mehr in einer Reihe abstrakter oder hegemonialer Prinzipien aus. Es verfügt über kein anderes regulatives Prinzip als sein eigenes Überleben und seine Reproduktion, wenn nötig mit gewaltsamer Repression. Aus diesem Grund hat es keine Bedenken, seine schreckli­che Brutalität offenzulegen und alles zu zerschlagen, was es als Bedrohung verstehen kann. Die dia­lektische Beziehung zwischen Kapital und Arbeit, vielen Marxisten so lieb, wird fortwährend vom Kapital selbst gebrochen. Ob nun aus einer Nostalgie für irgendeinen verlorenen demokratischen Horizont oder aus anderen Gründen: Zu glauben, daß man diese durch die Mittel des Kampfs wie­der herstellen könnte, ist von Anbeginn eine verlorene Wette, wie die Sackgassen gezeigt haben, in denen die Bewegung für eine alternative Globalisierung und der ganze post-proletarische Vorschlag von Negri und Hardt gelandet sind. Wie konnten wir in der polizeilichen Repression von Seattle 1999 und Genua 2001 nicht das Schreckgespenst eines von der Herrschaft leicht gekämpften und gewonnenen Bürgerkriegs sehen? Während die ‘Tute Bianche’ [globalisierungskritische Bewegung in Italien, die mit weißen Overalls auftrat] auf einer rein symbolischen Ebene Trugbilder bekämpf­ten, zerschlug die Gegenseite die Bewegung mittels Gewalt und Angst.

Ganz ähnlich könnte man die mörderische Gewalt sehen, die die Polizei gegen die Protestierenden in Sainte-Soline ausübte. Wann immer eine antagonistische Gewalt das öffentliche Konfliktniveau erhöht und es auf eine hoch symbolische Ebene bringt, gibt sie sie sich der Repression klar und deutlich zu erkennen, die keine besonderen Schwierigkeiten hat, sich zu organisieren und alle zur Zerschlagung des Gegners notwendigen Mittel zu mobilisieren. Die Frage der Gewalt muß sich so von einer doppelt spiegelnden Naivität befreien: auf der einen Seite von einer gewaltfreien Opfer­position, die glaubt, man könne die Gewaltverhältnisse allein auf dem diskursiven oder kulturellen Level ändern, indem man die Gewalt des Staates denunziert und auf der anderen Seite eine Wieder­aneignung der Gewalt, die versucht, einen kraftvollen Feldzug zu starten, der dem des Staates sym­metrisch ist. Das birgt das Risiko, die produktiven und erfinderischen Potentiale des Konflikts in ei­ne Konfrontation zwischen zwei etablierten Fronten zu kanalisieren, von denen die eine militärisch vollständig dominiert.

Destitution (Entsetzung)

Anders als symmetrische und dialektische Modelle der Konfrontation, die Formen der Regierung nur opponieren, um Alternativen vorzuschlagen, ist Destitution eine Form der Verschwörung, die darauf abzielt, den Apparat, der das Leben und Verhalten des neoliberalen Subjekts regiert, zu deak­tivieren und abzuschalten, sowohl territorial, als auch subjektiv. Eine revolutionäre (destituierende) Subjektivität in der heutigen Epoche entleert die Macht und verwehrt sich dabei einer Identität oder anderer Formen der Subjektwerdung.

Destitution ist eine opake Kunst, die Anarchie der Macht umzuwerfen – in Richtung auf wirkliche Anarchie, verstanden als ein Leben, das keine Legitimität braucht und im freien Spiel und Aus­tausch zwischen den Lebensweisen wurzelt. Folgt man dem Unsichtbaren Komitee, besteht eine Möglichkeit, die Anarchie der Macht mittels Aktionen offenzulegen, darin, ihre Grundlosigkeit zur Schau stellen. Das heißt nicht, ihre Gewalt zu denunzieren, um einen demokratischen Skandal aus­zulösen, sondern vielmehr, Schläge auszuführen, die zeigen, daß die wahre Natur der Macht bar jedweder abstrakten Legitimität ist (ein Gesellschaftsvertrag, Demokratie, Gleichheit, Nation, Ord­nung etc.). Ebenso braucht auch eine Geste der Destitution keine Legitimität, da sie ihren Ausdruck in einer vernünftigen und ersichtlichen Wahrheit und Wirklichkeit verankert, die keine diskursive Bedeutung benötigt. Solche Gesten zwingen die Polizei, sich als das zu zeigen, was sie ist: eine kri­minelle Bande wie alle anderen, die um die Herrschaft über ein Gebiet kämpft.

Folgt auf eine Geste der Destitution, die die Macht zwingt, wieder auf Erden zurückzukehren und sich in ihrer Materialität zu zeigen, ein konstituierender Prozess (einer Strategie und eines Sub­jekts), wird der Konflikt wahrscheinlich zu einem frontalen Zusammenprall mit den Gewalten der Ordnung führen. Er wird zu einem tragischen Krieg in einer symmetrischen Konstellation, in der die konterrevolutionären Kräfte (die Polizei) all ihre überwältigenden Kräfte einsetzen werden, um die Schlacht zu gewinnen. (19) Das passiert jeder Bewegung, die, wenn sie in ihrem Widerspruch zum Staat in eine Sackgasse geraten ist, entweder ins Verfallsstadium eintritt oder einen Kern frei­legt, der das Level des Kampfes kontinuierlich so zu erhöhen trachtet, bis er auf tragische Weise mi­litärisch wird und jeder revolutionäre Schimmer erlischt. Der Bürgerkrieg versteinert in zwei feste Fronten, mit einem Gegner, der neben dem militärischen Vorteil auch noch das Privileg hat, sich auszusuchen, auf welchem Feld die Schlacht geschlagen wird.

Diese Wahrheiten zeigen sich uns im gegenwärtigen französischen Kampfzyklus: Einerseits die in­novative Fähigkeit des Aufbruchs, eine neu zusammengesetzte Subjektivität zu initiieren; eine Fä­higkeit, die in sich selbst als destituierend betrachtet werden muß, insofern sie Erfolg dabei hat, so­wohl einer dialektischen Logik mit dem Staat zu entgehen, als auch sich in praktischem und rhyth­mischem Sinne fortwährend neu zu erfinden (etwa bei der Wahl des Zeitpunkts der Aktionen). Wenn ‘Aufstände der Erde’ eine große Fähigkeit gezeigt hat, die Polizei in Schach zu halten und bloßzustellen, ist das ganz analog zum großen Teil der innovativen Kraft zu verdanken, die die neue Zusammensetzung hervorbringen konnte. Allerdings scheint diese Fähigkeit, neue unerwartete For­men hervorzubringen, am 25. März nachgelassen zu haben, wo sich die Zusammensetzung eher ver­festigte und die angewandte Strategie ähnlich der vom Vortag war. Das Ergebnis war eine Reihe von Entscheidungen, die für die Polizei vorhersehbar geworden waren, die sich dazu entschied, die An­kunft der Demonstration abzuwarten und eine ‘Belagerungs’-Dynamik zu beginnen, welche es ihr ermöglichte, die Menge brutal anzugreifen. Die darauf folgenden Analysen der taktischen Fehler in diesem Fall sind sicherlich stichhaltig (20), aber um in der Lage zu sein, die Sackgasse vom 25. März zu umgehen, wird eine Neuformulierung der allgemeinen strategischen Annahme erforderlich sein, die zur Automatisierung und Verhärtung der Organisationsfähigkeit geführt hat, wodurch ver­hindert wurde, daß die Bewegung improvisieren und die Gegenseite verwirren konnte wie noch im letzten Oktober.

Eine Annahme könnte sein, auf eine Verbreiterung des Zusammensetzungsprozesses abzuzielen: In dieser Hinsicht haben Versuche, den Kampf um den Wasserspeicher auf eine internationale Ebene auszuweiten, auf der einen Seite dazu geführt, daß das Niveau der Erwartungen an die Konfrontati­on erhöht wurde (eine Gelegenheit, die zu ergreifen die Polizei sich nicht nehmen ließ); auf der an­deren Seite kann eine Internationalisierung die Neuformulierung der taktische Organisierung der Demonstration erschweren. Und wenn wir zurückblicken, haben internationale Treffen und Kampa­gnen, die einen Kampf quantitativ vergrößern sollten, selten einen qualitativen Sprung herbeige­führt. Wenn überhaupt irgendwas, dann kündigen sie oft den Abstieg und Niedergang der Wirklich­keit der Kämpfe an. Im Gegensatz dazu ist unsere Annahme, daß die Stärkung und Vertiefung eines Kampfes eher aus der Intensivierung der Beziehungen der sie zusammensetzenden Komponenten erwachsen oder vielleicht auch von einer abwechselnden Zersetzung und Neuzusammensetzung, die neue und nicht vorhersehbare Formen der Improvisation hervorbringen könnte.

Bis März 2023 war die Bewegung in Atlanta in der Lage, die Initiative zu halten, indem sie eine Reihe von Aktionen ausführte, die die Polizei fast immer unvorbereitet trafen. Das ist natürlich so, weil die inneren Dynamiken der Bewegung extrem undurchsichtig sind, vor allem für die Polizei, die weiter im Dunkeln nach einer radikalen Führungsgruppe sucht, die für die zerstörerischsten Ak­tionen verantwortlich ist, aber auch, weil jede Aktionswoche unterschiedlich und in hohem Maße improvisiert gewesen ist. Während der ‘Aktionswoche’ vom März 2023 hat dieser Vorteil die Bewe­gung dazu verleitet, das Niveau so sehr zu erhöhen, dass schneidendere Formen der direkten Aktion schwer vorstellbar sind. (21) Zur selben Zeit war die Polizei gezwungen, mit einer willkürlichen Festnahme einiger Leute zu antworten, gegen die der schwere Vorwurf des ‘inländischen Terroris­mus’ erhoben wurde. Als sich die Stadt Atlanta fast einen Monat später entschloss, das Projekt vor­anzutreiben und anzufangen, einen Teil des Waldes abzuholzen und dessen Umgebung zu militari­sieren, vermied es die Bewegung, auf den Schritt der Stadt zu reagieren und in die Falle zu treten (das hätte heißen können, die Baustelle zu besetzen). Zur selben Zeit haben Versuche, anderswo an­zugreifen und den Konflikt zu dezentralisieren, bislang offenbar noch keine effektiven Formen ge­funden, trotz der guten Intuition (quer durch die USA fanden zahlreiche Aktionen statt, um die mit dem Cop-City-Projekt verbunden Gegebenheiten zu ‘sanktionieren’). An diesem Punkt besteht die einzig verfügbare Strategie darin, die explosiven Widersprüche innerhalb der demokratisch regier­ten Stadt zu schüren, indem der Druck auf den Bürgermeister immer weiter erhöht wird, dabei den breiten Konsens ausnutzend, der gegenüber der Bewegung in der Bevölkerung besteht. Dies könnte die Achse des Kampfes jedoch jenseits der Fähigkeiten der Bewegung verschieben. Wie manche Leute, die schon lange Teil der Mobilisierung sind, erkannt haben, könnte die Einbindung neuer Subjektivitäten in den Zusammensetzungsprozess neues Leben in den Kampf bringen, wie es schüchtern im Fall der Studenten passiert ist, die bestimmte Universitätsgebäude in Atlanta besetzt haben, oder durch das Experimentieren mit praktischen Formen, die einen qualitativen Sprung bei der Unterstützung und beim Engagement bei den dem Projekt feindlich gegenüberstehenden ‘Bür­gern’ herbeiführen geeignet sind.

Wenn eine Bewegung nicht länger zur Verteidigung (oder zum Angriff) in der Lage ist, weil sie ihre taktischen Ressourcen aufgebraucht hat, besteht das Risiko des Rückfalls in politische Dynamiken. Die Strategie fängt an, zurück in repräsentative Formen der Politik zu rutschen, taktische Entschei­dungen fallen leicht zugunsten performativer Formen, die darauf zielen, auf der Ebene der Öffent­lichkeit oder der Medien zu intervenieren. Das Geschehen in Atlanta oder auch in Frankreich (be­sonders kürzlich in Val Maurienne), ist dem Risiko ausgesetzt, in eine ähnliche Richtung zu gehen wie die No-TAV-Bewegung in Italien. Konfrontiert mit ihrem Niedergang, fing diese an, sich in re­präsentativer Politik zu fliehen, entweder, indem sie die ‘Demokratie’ nutzen wollten oder einfach, indem man in stumpfen Aktivismus zurückfiel und Medienaufmerksamkeit suchte. In diesen Mo­menten öffnet die ‘Strategie der Zusammensetzung’ nicht mehr den Weg Richtung Revolution. Stattdessen fallen die Gruppen in immer stärker identitäre Dynamiken zurück; die politischeren fan­gen dann an, Konsensbildung zu betreiben und ihre Position im Auge der Öffentlichkeit zu stär­ken, ‘Kapital’ aus dem Konflikt zu schlagen. Die starke moralisch-politische Spannung am Grunde des Kampfes wird ersetzt durch eine Dynamik der Öffentlichkeit und Politik. Wenn Politik öffent­lich wird, setzt sich die Bewegung nicht nur der Repression aus, sie verliert auch die Fähigkeit, zu improvisieren und unvorhersehbar zu bleiben.

Eine Strategie der Zusammensetzung kann die revolutionären Möglichkeiten eines Kampfes nur dann ‘offenlegen’, wenn sie offen bleibt und dabei eine Zielrichtung der Destitution verfolgt. Das heißt einerseits, sich immer in Richtung Flucht vor jedweder dialektischen Dynamik mit der Macht zu orientieren, und andererseits, die aus dem Zusammensetzungsprozess entstandenen Formen einer ständigen Neukombination und Brüchen auszusetzen. Eine Neukombination kann, wie im Beispiel der Mobilisierung gegen die Rentenreform, durch das Einbrechen eines neuen, für der Macht schwer zu entziffernden Protagonisten stattfinden. Oder sie versucht bei Schwierigkeiten, Platz für neue Komponenten zu machen, weitere Konfigurationen des Zusammentreffens und Kontakts zwi­schen den kämpfenden Subjektivitäten zu entdecken und Wege der Desubjektivierung zu suchen, um einen Versteinerungsprozess zu verhindern.

Und wenn kein neuer Rhythmus gefunden werden kann, wenn die experimentellen Fähigkeiten er­schöpft worden sind, müssen wir den Beginn des Verfallsprozesses erkennen, da jeder voluntaristi­sche Versuch der Wiederbelebung nur in Formen von Opferungsmilitantismus endet, der die Macht spiegelt, die bekämpft werden soll. Aus einer breiteren strategischen Sichtweise kann solch ein Wil­le zur Opferung auch in einem Verlust der Lektionen resultieren, welche der Kampf ansonsten leh­ren und weitergeben hätte können, die logistischen, organisatorischen und praktischen Fähigkeiten, die andernfalls ein Schlüsselvermögen für eine neue Phase des Konflikts in der Zukunft sein hätten können.

In einem Wort: Die revolutionären Möglichkeiten jedes Kampfes hängen von seiner Fähigkeit ab, destituierende Kraft zu erschaffen und zu erhalten; und das in einem Prozess der Negation und Selbstnegation, der sich durch fortlaufendes Experimentieren und Improvisieren selbst regeneriert. Revolution ist eine alchimistische Kunst: Bei ihr geht es um das Gießen von Gold, Stahl und Blut, um damit neue Verbindungen zu erzeugen, neue Strategien zu kombinieren, und das Ganze in einer endlosen Heterogenesis.

Nicolò Molinari, 23. Juni 2023

Anmerkungen

(1) Temps critiques: La protestation en cours sur les retraites. Du refus à la révolte?, in: Lundi matin #377, 4. April 2023

(2) Siehe Endnotes: Onward Barbarians

(3) Anonym: Sortir de l’antagonisme d’état, Lundi matin #378, 11. April 2023

(4) Joshua Clover: Riot. Strike. Riot, Verso 2016. Der Autor bezieht sich besonders auf die Kommune von Oakland.

(5) Die folgenden zwei Text spüren klare Verbindungen zwischen zwei bedeutenden Erfahrungen in den USA der 2020er auf: in Atlanta und in Seattle. Anonym: At the Wendys, Ill Will, 9. November 2020, und: Anonym: Get in the Zone. A Report from the Capitol Hill Autonomous Zone in Seattle, It’s going down, 8. Juni 2020

(6) Über das Verhältnis zwischen Verwaltung und Hoheitsgewalt und wie die Erfahrung der Zapatisten erfolgreich be­stimmten Untiefen westlichen radikalen Denkens entkommt, siehe: Jerome Baschet: Zapatista Autonomy. A Destituent Experiment?, Ill Will, 7. September 2022

(7) Zu diesem Gebrauch des Begriffs ‚Autonomie‘ siehe Adrian Wohlleben: Autonomy in Conflict, in: The Reservoir, Vol. 1

(8) Im Original steht der ungebräuchliche Begriff Transcrescence und dazu folgendes Kommentar in einer Fußnote: „Transcrescence ist ein Begriff, den Jacques Camatte verwendet, um den Übergang des Kapitalismus in eine radikalere Stufe zu beschreiben, die nun keine Vermittlungsebenen mehr benötigt, da das kapitalistische Gesetz die Gesellschaft und ihre Subjekte vollkommen durchdrungen hat. Beispielsweise erscheint Arbeit nun nicht mehr als dialektischer Wi­derspruch zum Kapital, sondern wird Teil des Kapitals. Der Kapitalismus ist damit keine Wirtschaftsform mehr, sondern eine Zivilisation.“

(9) Aus einer subjektiven Perspektive ist die Leere, die am Ende eines Aufstands bleibt, vor allen Dingen ethisch und af­fektiv. Dies steht im Kontrast zu anderen, eher nostalgischen Argumenten, die mit der Arbeiterbewegung verbunden sind, die die politische Leere betonen, die als Folge bleibt, und die Abwesenheit eines verläßlichen politischen Subjekts hervorheben. Siehe zum Beispiel: Maurizio Lazzarato: The Class Struggle in France, Ill Will, 14. April 2023. Oder all­gemeiner dessen Buch Guerra o rivoluzione, Derive Approdi, 2022

(10) Hugh Farrell: The Strategy of Composition, Ill Will, 14. Januar 2023

(11) In einem neueren Text mit dem Titel ‚Tragic Theses‘ argumentiert der Autor, daß territoriale Kämpfe ein Beispiel für den Versuch bieten, die Grenze zwischen den Arten, zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen, zu überwinden oder zu unterminieren, indem die Prozesse der Humanisierung und Dehumanisierung, die den Prozessen der Inwertsetzung von Kapital zugrundeliegen, gebrochen werden. Diese Hypothese scheint in den Slogans Bestätigung zu finden, die viele dieser Bewegungen verwenden: ‚Wir sind das Tal, das sich selbst verteidigt.‘ (NoTAV). Oder auch in den Namen selbst: ‚Aufstände der Erde‘, die auf einen Ort, ein Territorium verweisen und nicht auf ein Subjekt, das die Vermittlung zwischen den Orten darstellt. Siehe: Anonym: Tragic Theses, Decompositions, 9. März 2023

(12) Es sollte erwähnt werden, daß ‚Aufstände der Erde‘ mehr ist als ein territorialer Kampf; tatsächlich hat die gesamte organisatorische Anstrengung dieses Netzwerks in vielerlei Hinsicht einen Versuch dargestellt, die Grenzen eines be­stimmten und lokalen territorialen Kampfs zu überwinden. In diesem Text liegt mein Schwerpunkt nur auf dem spezifi­schen Fall des Kampfs gegen den Megawasserspeicher in Sainte-Soline.

(13) Siehe: Anonym: Pour ceux qui bougent (en 2023): 2016 dans le rétroviseur, Lundi Matin, 14. Februar 2023. Deutsch: Für diejenigen, die sich bewegen (im Jahr 2023): 2016 im Rückspiegel – (Die wahre Geschichte des Cortège de Tête)

(14) Adrian Wohlleben: Memes without End, Ill Will, 16. Mai 2021

(15) Zur Komplexität dieses Falls siehe: Anonym: Victory and its Consequences, in: Liaisons, Vol. 2

(16) Bordiga-Schüler werden mir hoffentlich diese krasse Übersimplifizierung des Unterschieds zwischen historischen und formalen Parteien verzeihen.

(17) Dieser Ausdruck stammt aus: Katherine Nelson: The Anarchy of Power, South Atlantic Quarterly, 122-1, Januar 2023. In der nachfolge von Rainer Schürmann argumentiert Nelson, daß die Krise der Moderne einen Niedergang der metaphysischen Rahmen mit sich gebracht hat, auf denen die Formen der Macht in der modernen Zeit gebaut waren. Der Nihilismus hat diese Rahmen bloßgestellt, die, einmal entschleiert, nur noch einen unaufhaltsamen Verfall durch­laufen können. Im Ergebnis ist das System unseres Zeitalters wesentlich nihilistisch und anarchisch. Angesichts dieses Verfalls sucht sich die Macht nicht mehr eine Reihe universeller oder totalisierender Rechtfertigungen, wie sie es in der ganzen Geschichte westlicher Modernität getan hat, sondern sie definiert sich nun neu als reine Gewalt, gewaltsame Herrschaft. Michele Garau ist in seinem neuen Werk über Jaques Camatte zu ähnlichen Schlüssen gekommen (siehe: Garau: The Community of Capital, Ill Will, 23. April 2022). Garau zufolge geraten die Rechte und Formen des liberalen Staates Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in die Krise. Die Repräsentationen, mit denen das Kapital sich ausgestattet hat, um das Vakuum zu füllen, das durch die Zerstörung der kommunitaristischen Bindungen, die ihm vorhergingen, stellen kein zusammenhaltendes Element mehr dar, da die ökonomischen Verhältnisse die sozialen durchdrungen haben und das Kapital der Gesellschaft selber immanent geworden ist, dem ‚Sozialen‘, und so nicht länger eine Reihe von Ex­ternalisierungen oder Transzendenzen in Form von Institutionen oder Werten produzieren muß, die als Klebstoff für ei­ne Bevölkerung separierter Individuen dienen muß. Diese Thesen hat Jaques Camatte in den späten 1960ern und frühen 70ern entwickelt. Sie wurden, wie Garau bemerkt, von Negri aufgenommen und zwar in seinem Text Crisi dello stato piano von 1972, in dem der Autor bürgerliche Freiheiten und den Nationalstaat nicht mehr als Schein, sondern als dop­pelten Schein beschreibt. Macht ist nun zufällig und willkürlich. Geld ist die totale Repräsentation geworden und wird so zur Herrschaftsform über der sozialen Welt; dabei hat es jeden sozialen Grund, zu existieren, verloren und be­ruht ausschließlich auf Klassengewalt. Der Staat nimmt nunmehr eine Rolle ein, die keine mehr der Vermittlung ist, sondern die politische Basis für die Herrschaft des Kapitals bereitstellt.

(18) Im Gegensatz zu denen, die behaupten, daß die Hypothese der Destitution einfach nur einen Vorschlag für weitere Revolten und das Aufheben der historischen Zeit darstelle, wurde die Idee der desituierenden Macht tatsächlich von Agamben und dem Unsichtbaren Komitee als Versuch formuliert, einen revolutionären Weg aufzuzeigen, der nicht auf den selben Felsen Schiffbruch erleidet, die schon so lange moderne Revolutionen zu Konterrevolutionen werden ließen.

(19) In The Anarchy of Power betont Nelson einige Grenzen bei der Überführung einer destituierenden Macht in eine Gegenmacht: „Eine Politik, die sich jedem Anspruch auf Legitimität verweigert, kann tatsächlich, wie das Unsichtbare Komitee schreibt, die Regierung dazu zwingen, ‚sich auf die Ebene der Aufständischen zu erniedrigen, die dann nicht länger mehr die ‚Monster‘, Kriminellen’ oder ‚Terroristen‘ sein können, sondern ganz einfach Feinde’; sie kann ‚die Po­lizei zwingen, fortan nichts mehr als eine Bande zu sein, und das Justizsystem zu einer kriminellen Vereinigung ma­chen‘. Damit ist jedoch das Risiko verbunden, daß der folgende Kampf zu einem ‚Kampf um Leben und Tod‘ zwischen den Fraktionen wird. In solchen Fällen wird eine zu kurz gefaßte Destitution zum zerbrochenem Metonym einer sinn­vollen politischen Existenz – und produziert dabei Opfer einer anarchischen Epoche. Um das klar zu sagen: Eine solche tödliche Identifikation von dem, was man ist oder was wir sind, mit dem, was zu tun ist, von Sein und Praxis ist über­haupt nicht bezeichnend für Destitution – jedoch ist es das Risiko, das gebe ich zu, welches eine Politik der Destitution besonders und wesenhaft birgt.‘

(20) Siehe: Les Soulèvements de la Terre: To those who marched at Sainte Soline, Ill Will, 24. April 2023

(21) Eine ganze Baustelle wurde in Brand gesteckt.

Diese Übersetzung stammt vom Et al. Kollektiv [PDF Version] und wurde Bonustracks zur Veröf­fentlichung zur Verfügung gestellt, um den Text breiter bekannt zu machen, und von dort für dieses Bulletin kopiert.

Auf die Schreie und Wort der Revoltierenden hören

ALESSANDRO STELLA

Seit jeher wurden die Aufstände der Unterdrückten von den herrschenden Eliten stigmatisiert und als Unruhen, Tumulte, plötzliche und unverständliche Explosionen von verwirrten, hasserfüllten Menschenmengen, anonymen Massen ohne Anführer oder Verstand, als Lärm und Wut, die die an­ständigen Leute in Angst und Schrecken versetzten, bezeichnet. Seither spricht man von Wut, Zorn und unerklärlichen und unentschuldbaren Gewalttätigkeiten der “Aufrührer”. Die Disqualifizierung der Revolte und die Kriminalisierung der Revoltierenden dienen dazu, ihre Unterdrückung zu legiti­mieren. Werfen wir einen Blick auf die Ereignisse und schnellen Abfolgen dieser Revolte von Ende Juni 2023 in Frankreich, der sogenannten Revolte der Vorstädte.

Der Mord an dem 17-jährigen Nahel, der am Morgen des 27. Juni 2023 in Nanterre von einem über­eifrigen und hochdekorierten Polizisten begangen wurde, hat in allen Arbeitervierteln Frankreichs die Stimmung angeheizt. Es war der x-te Mord, den Polizisten an rassistisch diskriminierten Men­schen verübten, die in den städtischen Randgebieten lebten. Der Tropfen, der das Fass zum Über­laufen brachte. Nahel hatte einen leistungsstarken Mercedes gemietet und fuhr mit zwei gleichaltri­gen Freunden durch die Straßen seines Viertels, aus Spaß, aus Angeberei, aus dem jugendlichen Drang, das Leben zu genießen, bisweilen vielleicht auch nur unbewusst. Abgesehen von den genau­en Umständen seiner Festnahme kann man die Hypothese aufstellen, dass die Polizisten, die im Dienst mächtige Motorräder vom Typ Yamaha 1200 fuhren um Abends mit ihrem armseligen Clio nach Hause zu fahren, es für unerträglich hielten, dass drei rebellische Jugendliche mit einem Lu­xusauto herumfahren konnten.

Nachdem die Polizisten den Mord begangen hatten, fühlten sie sich durch die Straffreiheit, die der Staat seinen bewaffneten Dienern gewährt, geschützt. Ihre Version der Ereignisse (Notwehr, wie üb­lich) wurde jedoch schnell durch die von Passanten aufgenommenen Bilder entkräftet. Das brachte die Familie, die Freunde und die Bewohner der Arbeiterviertel von Nanterre und anderswo sofort zum Kochen. Bereits am Abend des 27. Juni brachen in Nanterre und anderen Städten im Großraum Paris “Unruhen” aus, die sich am nächsten Tag und in den darauffolgenden Tagen auf alle Städte in Frankreich ausbreiteten, in denen sich Schlafstädte befinden, die überwiegend von Schwarzen und Arabern bewohnt werden, die sozial abgehängt, diskriminiert und rassistisch ausgegrenzt sind, mit einer noch größeren Intensität als bei früheren Aufständen in den Vorstädten, insbesondere in den Jahren 2005 und 2007.

Die ersten Ziele der Aufständischen waren Polizisten und Gendarmen, wobei Dutzende von Polizei­stationen und Gendarmerieposten gestürmt wurden und es immer wieder zu Zusammenstößen mit den Ordnungskräften kam. Dann griffen die aufständischen Demonstranten Präfekturen und Rat­häuser an, bevor sie ihre Aktionen gegen Banken, Versicherungen, Luxusboutiquen und Supermärk­te richteten. Aber auch gegen öffentliche Gebäude, Schulen, Arbeitsämter und Mediatheken. Inner­halb von sechs Tagen wurden ein Dutzend Einkaufszentren, 200 Supermarktketten, 250 Tabakläden und 250 Bankfilialen teilweise oder vollständig zerstört. Auch zahlreiche Mode-, Sport- und Tele­kommunikationsunternehmen sowie Restaurants wurden beschädigt oder geplündert” (Libération, 3. Juli 2023, S. 3).

Allein in Montreuil, einem Pariser Vorort, in der Nacht vom 28. auf den 29. Juni: Angriff auf das Rathaus und die Polizeistation, systematische Zerstörung der Schaufenster und Geldautomaten der Banken, Verwüstung und Plünderung der Geschäfte im Einkaufszentrum des Rathauses, der Bar-Ta­bac in Croix de Chavaux, von Monoprix und Franprix, des Lidl und der Bar-Tabac in der Rue de Rosny, der in Paul Signac oder auch zweier Geschäfte an Tankstellen in Ober-Montreuil. Dagegen waren weder das Kino Méliès noch das öffentliche Theater in Montreuil oder die kleinen Läden im Stadtzentrum betroffen. Erwähnenswert ist auch, dass es zwar auf der Höhe des Lycée Jean Jaurès in der Rue de Rosny zu Mülltonnenbränden und Barrikaden kam, der dortige Tabakladen jedoch verschont wurde (vermutlich aus Respekt vor dem eigenen Zuhause).

In einer ersten Phase waren die Behörden und die Ordnungskräfte überfordert. Erstens, weil “die Unruhen” in den Vorstädten stattfanden, wo die Polizeipräsenz, die in normalen Zeiten natürlich einschüchternd und alltäglich war, dem Ansturm lokaler Gruppen, die ihr Gebiet kannten und von den Bewohnern des Viertels unterstützt wurden, nicht gewachsen war. Zweitens, weil die Aufständi­schen es verstanden, eine moderne und einfallsreiche Stadtguerilla zu praktizieren: massiver Einsatz von horizontal abgefeuerten Feuerwerksmörsern, Diebstahl von Autos von Abschleppdiensten und von Autohändlern (schlüsselfertig …), um sie als Rammbock zum Aufbrechen von Türen und Toren zu verwenden, Einsatz von Baumaschinen, denen sie auf dem Weg begegneten, schnelle Aktionen und Mobilität der Gruppen, Einsatz verschlüsselter Anwendungen, um sich gegenseitig Informatio­nen zu übermitteln und sich zu verabreden. Und vor allem, am wichtigsten, überwältigten die Auf­ständischen die Polizeikräfte zahlenmäßig: Hunderttausende von Menschen dürften auf die eine oder andere Weise an dem Aufstand beteiligt gewesen sein. Während der Nacht, wenn alle Katzen grau sind.

Wie zu Beginn der Gelbwesten-Bewegung hat auch die Bewegung der Bewohner der Banlieues die autoritäre Macht unvorbereitet getroffen. Trotz vierzig Jahren Protesten, Unruhen und Revolten hat­te der Staat die Aufstände in den Vorstädten nicht kommen sehen. Nachdem er den Volksaufstand gegen die Rentenreform niedergeschlagen hatte, waren seine Augen auf die Unterdrückung der ‘Aufstände der Erde’ (soulèvements de la terre) gerichtet. Doch dann explodierte eine andere, uner­wartete Revolte mitten in seinem Gesicht. Und zwar unkontrollierbar! Denn das Feuer war überall, in Hunderten von Städten in Frankreich, an Tausenden von Orten, verstreut. Wie bei der Gelbwesten Bewegung sah sich der Staat mit einer Bewegung konfrontiert, die im ganzen Land verankert war, keineswegs konzentriert, überhaupt nicht zentralisiert. Von den Metropolen bis zu den kleinen Pro­vinzstädten, überall dort, wo der Staat seit Jahrzehnten Schlafstädte errichtet hatte, um die für die industrielle Entwicklung nützlichen und notwendigen Arbeitsmigranten unterzubringen, kam es zum Aufstand. Durch kleine, affine, selbstorganisierte Gruppen, die durch gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen miteinander verbunden waren, in einer Selbstidentifikation als diskriminierte, misshandelte und verachtete Bevölkerungsgruppen.

Denn das Profil der Aufständischen dieses Sommers 2023 in Frankreich sieht folgendermaßen aus. Es handelt sich um junge Leute (17 Jahre alt war das Durchschnittsalter der Verhafteten, so alt wie auch Nahel), in ihrer großen Mehrheit Söhne, Enkel und Urenkel von afrikanischen und nordafrika­nischen Einwanderern, die als billige Arbeitskräfte nach Frankreich kamen, um die Industrie und später die Dienstleistungen und den Vertrieb am Laufen zu halten. Diese Menschen wurden ausge­beutet und in Ghettos in den städtischen Randgebieten untergebracht. Ehemalige Kolonisierte, die ihres Landes beraubt und dann gezwungen wurden, sich für einen Job, einen Lohn und eine Unter­kunft in einem Kaninchenkäfig in die Emigration zu fügen. Eigentlich Franzosen, die aber wie Schwarze und Araber behandelt wurden, also in der identitätsstiftenden Vorstellungswelt der “Stammfranzosen” als weniger als nichts, als minderwertig angesehen wurden.

Und der Staat bekam Angst. Er setzte schnell den gesamten Repressionsapparat ein: 45.000 Polizis­ten und Gendarmen wurden mobilisiert, um die Revolte niederzuschlagen, 60.000 Feuerwehrleute wurden zu ihrer Unterstützung eingesetzt, auf Antiterrorismus spezialisierte Einheiten wurden ein­gesetzt, eine beeindruckende Offensivbewaffnung wurde eingesetzt, darunter auch die Panzer der Gendarmerie in den Straßen von Marseille.

Die Reaktion des Staates auf die an einen allgemeinen Aufstand grenzende Revolte in den Vorstäd­ten war erbarmungslos. Tausende Polizisten und Gendarmen gingen wie Kampfhunde auf die De­monstranten los, setzten alle möglichen Waffen ein und verletzten Hunderte von Menschen durch Schlagstöcke, LBD, Reizgas und Schockgranaten. Mehr als 3500 Personen wurden innerhalb weni­ger Tage festgenommen und von Sondergerichten im Schnellverfahren abgeurteilt, die die von der Regierung gewünschte Doktrin der harten Urteile anwandten. Hunderte von Gefängnisstrafen für Jugendliche und junge Erwachsene. Darüber hinaus wird damit gedroht, dass die Eltern der verur­teilten Minderjährigen für die Millionen Euro an zivil- und strafrechtlichen Schäden aufkommen müssen. Sehr harte Strafen, um ein Exempel zu statuieren, die Ausbreitung der Bewegung zu stop­pen und die Revoltierenden zu warnen, es nicht noch einmal zu versuchen. Die Polizisten schlagen zu und verhaften, die Richter schicken in den Knast, ohne zu hinterfragen, warum Menschen das Risiko eingegangen sind, verprügelt, verstümmelt zu werden oder im Gefängnis zu landen.

Wie jedes Mal, wenn eine Revolte ausbricht, stellt sich die Frage nach den Gründen, den Motiven für die Aktionen und Gewalttaten. Aber wo findet man die Worte der “Randalierer”? Die der Gelb­westen standen auf der Rückseite der Weste, wurden in den sozialen Netzwerken niedergeschrieben, bei Demonstrationen unmittelbar gesprochen und an die Wände gesprüht. Die Worte der Aufständi­schen in den Vorstädten scheinen noch seltener und schwerer zu hören zu sein, da sie grundsätzlich über freundschaftliche, nachbarschaftliche und kameradschaftliche Netzwerke laufen, über die kurzlebigen Apps der Smartphones, geschrieben und gesungen von Rappern. Was die Aussagen der Angeklagten vor Gericht betrifft (die von den Mainstream-Medien zur Erstellung eines “Profils der Aufrührer” herangezogen werden), so weiß jeder gewissenhafte Analyst genau, dass diese Rede nicht frei ist, sondern im Gegenteil.

Wo findet man also das Wort der Aufständischen? Eine gute Quelle sind die Aktionen, die anvisier­ten Ziele. Denn die Aktionen der “Randalierer” sind allesamt Worte, die von Jugendlichen und jun­gen Erwachsenen verfasst wurden, die es nicht gewohnt sind, gelehrte Texte, Petitionen oder Be­schwerdeschriften zu verfassen. Dennoch sind es klare Worte, wenn man sich die Mühe machen will, sie zu lesen.

Die Angriffe auf die Polizei, die Polizeistationen, die Präfekturen, die Gerichte und die Gefängnisse sprechen eine deutliche Sprache. Muss man an die täglichen Schikanen von Polizisten erinnern, die in den Arbeitervierteln patrouillieren, an das “Delikt des Gesichtes”, die Schikanen, Demütigungen, Schläge und Beleidigungen, denen schwarze und arabische Jugendliche systematisch zum Opfer fallen? Unter dem Vorwand, den Drogenhandel und die Kriminalität zu bekämpfen, verhalten sich die in den Arbeitervierteln tätigen Polizisten seit Jahrzehnten nicht als Friedenshüter, die sie eigent­lich sein sollten, sondern als Schürer des Hasses. Eine Haltung, ein Geist, der in der Mitteilung vom 30. Juni 2023 der UNSA Police (die übrigens regelmäßig den Ordnungsdienst bei Gewerkschaftsde­monstrationen stellt), Hand in Hand mit der Alliance Police Nationale, den Fascho-Bullen, gut zum Ausdruck kommt, in der dazu aufgerufen wird, “den Krieg gegen die Schädlinge zu führen”.

Auch die Angriffe auf die Rathäuser sprechen eine deutliche Sprache. Die Bewohner der Arbeiter­viertel haben es nicht mit dem Elysée-Palast, nicht mit Matignon (Sitz des PM, d.Ü.) zu tun. Für sie ist das Rathaus die Macht, dort werden ihre Wohnungsanträge, ihre Anträge auf Arbeit, Ausweispa­piere und Soforthilfe bearbeitet und manchmal, oftmals sogar, abgelehnt. Wie sollte man den aufge­stauten Hass der Bewohner der Schlafstädte von Hay-les-Roses, einer schicken und teuren Gemein­de im Département 92, gegen die Stadtverwaltung und ihren Bürgermeister nicht verstehen, der nur darauf aus ist, die gutbürgerlichen Eigenheimbesitzer zu bedienen, und sich einen Dreck um die Wohnbedingungen und den Alltag der Bewohner der Großwohnsiedlungen schert?

Die Geografie der “Unruhen” lässt keinen Zweifel. Es handelt sich um einen Angriff von Bewoh­nern der Arbeiterviertel, der Siedlungen, der Hochhäuser und der Wohnriegel, wo man auf dem frei­en Gelände unterhalb des Gebäudes grillen muss, auf die wohlhabenden Innenstädte und die privile­gierten Wohnviertel, die von gutbürgerlichen oder kleinbürgerlichen Erben bewohnt werden, die es sich gut gehen lassen. Von L’Hay-les-Roses bis Montargis, von Vernon (Eure) bis Saint-Florentin (Yonne) stürmten die Ausgegrenzten, die Verlassenen, die Verachteten, die rassistisch Sigmatisier­ten, die Peripherisierten gegen die Stadtzentren, gegen die Einkaufszentren, gegen alle Zentren und Symbole der wirtschaftlichen, politischen und symbolischen Macht. Eine räumliche, architektoni­sche, soziologische und ethnische Kluft.

Auch die Angriffe auf Banken und Versicherungen sind von eklatanter Offensichtlichkeit. Wie oft wurde Bewohnern von Arbeitervierteln, vor allem Jugendlichen, ein Kleinkredit verweigert, das Konto geschlossen oder ihnen sogar die Eröffnung eines Kontos verwehrt? Wie könnte man den Groll der Armen, der Prekären, der Bürgenlosen gegen die Herren des Geldes nicht verstehen?

Nun musste zwar die gesamte politische Klasse, angefangen bei Macron und seiner Regierung, den Mord an Nahel verurteilen (angesichts der offensichtlichen Fakten …), und die Linksparteien äu­ßerten Verständnis für die Wut der “Vorstadtjugendlichen” über die Polizeigewalt, aber niemand wagte es, die “Plünderer” zu verteidigen. Im Gegenteil, die Verwüstung und Plünderung von Ge­schäften diente allen Reaktionären, von den Faschisten über die KPF (Kommunistische Partei), die Rechte, die Mitte bis hin zu all den moralisierenden Gutmenschen, dazu, die Schuld umzukehren und eine große Kelle gegen die “Wilden”, die “Kriminellen”, die “schlecht Erzogenen”, kurz “das Gesindel”, auszuteilen.

Zwar scheinen die Verwüstungen und Plünderungen von Geschäften aus politischer Sicht weniger verständlich, ja sogar unverständlich zu sein. Die etablierten Analysten und die Leitartikler der klügsten Medien können allenfalls die Diebstähle in Supermärkten verstehen, wenn man die struk­turelle Armut der Bewohner der Siedlungen, die galoppierende Inflation und die explosionsartige Zunahme von Lebensmitteltafeln und Armenküchen zur Unterstützung der Bedürftigsten, die sich nicht angemessen ernähren können, bedenkt. Was nicht durchgeht und von keinem Kommentator gerechtfertigt wird, ist die Plünderung von Modegeschäften, Telefon- und Computerläden, Tabaklä­den und natürlich Waffenläden.

Erinnern wir uns: Im Ancien Régime waren Adel und Bürger empört über die Croquants, die auf­ständischen versklavten Bauern, die sich nicht nur gegen ihre Herren auflehnten und es wagten, ihre Schlösser oder Abteien anzugreifen, sondern sich auch in ihren Kellern wälzten, um ihren Wein zu stibitzen. Warum also sollte man sich wundern, dass die mittellosen Armen von heute nicht nur Le­bensmittel stehlen, sondern auch ein Auge auf Kleidung, Mobiltelefone, Tablets, Zigarettenstangen und Rubbellose geworfen haben? Jede Zeit bringt ihre Wünsche und Begierden hervor, ob es den Spießern nun gefällt oder nicht, die sich daran stören, dass ein schwarzer oder arabischer Jugendli­cher am Steuer eines Mercedes sitzt, der in ihren Augen zwangsläufig ein Drogendealer oder Dieb ist. Natürlich wurden die Zigarettenstangen, die aus den Tabakläden gestohlen wurden, weiterver­kauft, aber man muss sich auch vorstellen, wie glücklich sich ein Teenager fühlt, wenn er eine Schachtel Zigaretten in der Tasche hat, anstatt sich mühsam drei Groschen zusammenkratzen zu müssen, um sich im Laden an der Ecke einzelne Zigaretten zu kaufen.

Die Regierung, aber auch sogenannte linke Politiker, spielen die Brände von Sekundarschulen und Mediatheken hoch, um die Bewegung zu kriminalisieren und gegen “nihilistische Schläger” vorge­hen zu können. Wenn man jedoch ein veröffentlichtes Wort von den Urhebern dieser Brände hätte, könnte man vielleicht die Gründe für diese Wut hören. Zum Beispiel erfahren, dass sie im Laufe ih­rer Schulzeit gemobbt und gedemütigt wurden und sich von dieser republikanischen Schule ausge­schlossen fühlten, deren Vorzüge der Integration als Bürger und der Chancengleichheit sie preisen sollten. Und sie haben sich ganz einfach, fast instinktiv, gerächt. Das mag Menschen schockieren, die sich für rechtschaffen und zivilisiert halten und sogar den Zurückgelassenen wohlwollend ge­genüberstehen. Aber wenn Unterdrückung, Elend, schreiende Ungleichheit, Rassismus, Klassismus und jede Art von Verachtung für andere durch einen friedlichen Dialog, ruhig diskutierte Argumen­te, Frieden und Gerechtigkeit bekämpft werden könnten, hätte sich das schon lange herumgespro­chen.

Notizen zu Krieg & Ausnahmezustand

  • Notes on war & state of emergency (Below)

  • Notas sobre guerra & el estado de excepción (Abajo)

Krieg

Die neuen und älteren Kriege bzw. militärischen Aufrüstungen und Expansionsbestrebungen ver­weisen auf die Krise des Empires. Egal ob es der Rückzug der USA aus Afghanistan, der Krieg in der Ukraine, der schwelende Konflikt um Taiwan, die neuen militär-strategischen Ausrichtungen im Natoblock, oder das Projekt der „Neuen Seidenstraße“ Chinas ist. Nachdem seit 1990 die USA als Hegemon, Weltpolizist, als Kaiser des Empires fungierte, schwindet seine Hegemonie und andere Staaten, vormals im Status der Aristokraten, beanspruchen einen höheren Status im Weltgefüge. Al­lerdings haben wir es nicht mit einer historischen Rückkehr der nationalen Imperialismen des 20. Jahrhunderts zu tun, sondern mit einem Kampf um die Neuzusammensetzung des global vernetzten Marktes. Was andersherum nicht bedeutet das Nationalismen keine Rolle spielen. Die USA versucht durch die neue Phase der NATO-Osterweiterung aggressiv diesem Hegemonieverlust entgegenzu­steuern, nicht nur gegen den Eurasischen Raum sondern auch gegen die EU, die sich zunehmend unabhängiger machen wollte bzw. will. Aus dieser Perspektive kann der Angriff Russlands als eine defensive Haltung begriffen werden. Aus der Perspektive des postsowjetischen Raumes hingegen als ein aggressiver Akt, der wiederum auf den Hegemonieverfall Russlands in eben diesem Raum verweist. Ökonomisch ist die Krise des Empires in der Krise des fossilen Kapitalismus begründet, der angesichts von massiv zurückgehenden Profitraten, einem aufgeblasenen Finanzsystem, Klima­katastrophe, Pandemie etc. ein neues Akkumulationsregime entwickeln muss; sich neu erfinden muss. Ob die USA ihre hegemoniale Stellung als Kaiser erneuern kann, ob sich verschiedene Machtzentren in einem fragilen Gleichgewicht konstituieren werden, ob es einen neuen Kaiser ge­ben wird ist noch nicht abzusehen. Die globale Auseinandersetzung um die Neukonfigurierung des Empires 2.0 hat gerade erst angefangen.

Ausnahmezustand

Der Ausnahmezustand ist nur die Fortsetzung des Krieges im Innern. Trotzdem bleiben wir beim Begriff des Ausnahmezustand, weil der Krieg nach Innen nicht militärisch, sondern aktuell haupt­sächlich politisch und polizeilich geführt wird. Für uns sind drei Ebenen des Ausnahmezustands re­levant: (1) als rechtliche Form, (2) als Ideologie, (3) als Politik.

(1) Souverän wer über den Ausnahmezustand verfügt (Aussetzung des Rechts zur Aufrechterhal­tung des Rechts): Fügt sich als gesetzliche und ideologische Permanenz in den Normalzustand ein, wobei diese Ausnahmezustände unserer Wahrnehmung in ihrer Taktung häufiger werden (911, Kli­mawandel, Pandemie).

(2) Katastrophismus und Verschärfung des Sicherheits bzw. Risikoparadigmas, Sachzwangargu­mente und Argumente der Alternativlosigkeit führen in strukturellen Autoritarismus der „Politik“

(3) Technokratie, Regieren per Verwaltungsordnung, nicht per Gesetz, Verlagerung von Politik in die Exekutive weg von der Legislative (sowohl Innenpolitisch, aber auch auf EU-Ebene); kurz: „Postideologie“, „Nicht-Politik“, Entdemokratisierung

Für uns spielt der Ausnahmezustand auf diesen drei Ebenen deswegen eine Rolle, weil er quasi zu einem zentralen Instrumentarium zur Aufrechterhaltung der Ordnung wird: Als bewusstes Mittel zur repressiven Eindämmung von Dissens oder als subtiles Herrschaftsinstrument der Biopolitik, aber auch quasi unbewusst, weil der Ausnahmezustand die adäquate Methode einer krisenhaften Zeit ist, in der die Herrschenden ohne große Idee oder Orientierung nur mit dieser Methode handlungsfähig bleiben zum Regieren und Verwalten.

Notes on war & state of emergency

War

The new and older wars or military build-ups and expansionist efforts point to the crisis of empire. Whether it is the withdrawal of the USA from Afghanistan, the war in Ukraine, the smouldering conflict over Taiwan, the new military-strategic alignments in the NATO bloc, or China’s „New Silk Road“ project. After the USA acted as hegemon, world policeman, emperor of the empire since 1990, its hegemony is fading and other states, formerly in the status of aristocrats, are claiming a higher status in the world structure. However, we are not dealing with a historical return of the national imperialisms of the 20th century, but with a struggle for the recomposition of the globally networked market. This does not mean that nationalisms do not play a role. The USA is aggressively trying to counteract this loss of hegemony through the new phase of NATO’s eastward expansion, not only against the Eurasian region but also against the EU, which increasingly wants to become more independent. From this perspective, Russia’s attack can be understood as a defensive stance. From the perspective of the post-Soviet space, on the other hand, it can be seen as an aggressive act, which in turn points to Russia’s decline in hegemony in this very space. Economically, the crisis of empire is rooted in the crisis of fossil capitalism, which, in the face of massively declining profit rates, an inflated financial system, climate catastrophe, pandemic, etc., must develop a new accumulation regime; must reinvent itself. Whether the U.S. can renew its hegemonic position as emperor, whether different centers of power will constitute themselves in a fragile equilibrium, whether there will be a new emperor is not yet foreseeable. The global struggle to reconfigure Empire 2.0 has only just begun.

State of exception

The state of exception is only the continuation of the war within. Nevertheless, we stick with the term „state of exception“ because the war within is not military, but currently mainly political and police. For us, three levels of the state of exception are relevant: (1) as a legal form, (2) as an ideology, (3) as a policy.

(1) Sovereign who has the state of exception (suspension of law to maintain law): Fits into the normal conditions of status quo as a legal and ideological permanence, altough in our perception the classical state of exception is becoming more frequent in their timing (911, climate change, pandemic).

(2) Catastrophism and intensification of the security or risk paradigm, arguments of necessity and arguments of no alternatives lead to structural authoritarianism of „politics“.

(3) Technocracy, governing by administrative order, not by law, shifting politics to the executive branch away from the legislature (both domestically, but also at the EU level); in short: „post-ideology,“ „non-politics,“ de-democratization.

For us, the state of emergency plays a role on these three levels because it becomes, as it were, a central instrument for maintaining order: As a conscious means of repressive containment of dissent or as a subtle instrument of domination of biopolitics, but also quasi unconsciously, because the state of emergency is the adequate method of a crisis-ridden time, in which the rulers without any great idea or orientation remain capable of acting to govern and administer only with this method.

Notas sobre guerra & el estado de excepción

Guerra

Las nuevas y viejas guerras o rearmes militares y esfuerzos expansionistas apuntan a la crisis del imperio. Ya sea la retirada de Estados Unidos de Afganistán, la guerra en Ucrania, el conflicto latente sobre Taiwán, los nuevos alineamientos militares y estratégicos en el bloque de la OTAN o el proyecto chino de la „Nueva Ruta de la Seda“. Después de que EE.UU. actuara como hegemón, policía mundial, emperador del imperio desde 1990, su hegemonía se está desvaneciendo y otros Estados, antes en el estatus de aristócratas, reclaman un estatus superior en la estructura mundial. Sin embargo, no estamos ante un retorno histórico de los imperialismos nacionales del siglo XX, sino ante una lucha por la recomposición del mercado mundial en red. Esto no significa que los nacionalismos no desempeñen un papel. Los EE.UU. están tratando agresivamente de contrarrestar esta pérdida de hegemonía a través de la nueva fase de expansión de la OTAN hacia el Este, no sólo contra la región euroasiática, sino también contra la UE, que cada vez quiere ser más independiente. Desde esta perspectiva, el ataque de Rusia puede entenderse como una postura defensiva. Desde la perspectiva del espacio postsoviético, en cambio, puede verse como un acto agresivo, que a su vez apunta al declive de la hegemonía rusa en este mismo espacio. Económicamente, la crisis del imperio hunde sus raíces en la crisis del capitalismo fósil, que ante el descenso masivo de las tasas de beneficio, un sistema financiero inflado, la catástrofe climática, la pandemia, etc., debe desarrollar un nuevo régimen de acumulación; debe reinventarse. Todavía no es previsible si EE.UU. podrá renovar su posición hegemónica como emperador, si los diferentes centros de poder se constituirán en un frágil equilibrio, si habrá un nuevo emperador. La lucha global por la reconfiguración del Imperio 2.0 no ha hecho más que empezar.

Estado de expeción

El estado de excepción no es más que la continuación de la guerra en el interior. Sin embargo, nos quedamos con el término estado de excepción porque la guerra interior no es militar, sino actualmente principalmente política y policial. Para nosotros, son relevantes tres niveles del estado de excepción: (1) como forma jurídica, (2) como ideología, (3) como política.

(1) Soberano que dispone el estado de excepción (suspensión de la ley para mantener la ley): Encaja en el estado normal como permanencia legal e ideológica, siendo estos estados de excepción cada vez más frecuentes en su cronometraje de nuestra percepción (911, cambio climático, pandemia).

(2) Catastrofismo e intensificación del paradigma de seguridad y riesgo, argumentos de necesidad y falta de alternativas conducen al autoritarismo estructural en la „política“.

(3) Tecnocracia, gobernar por orden administrativa, no por ley, desplazar la política al poder ejecutivo lejos del legislativo (tanto a nivel nacional, como también a nivel de la UE); en resumen: „post-ideología“, „no-política“, des-democratización.

Para nosotros, el estado de excepción desempeña un papel en estos tres niveles porque se convierte, por así decirlo, en un instrumento central para mantener el orden: Como medio consciente de contención represiva de la disidencia o como instrumento sutil de dominación de la biopolítica, pero también casi inconscientemente, porque el estado de excepción es el método adecuado de una época de crisis, en la que los gobernantes sin mayor idea ni orientación fija siguen siendo capaces de actuar para gobernar y administrar sólo con este método.

Die Übelkeit

Noor Or

Erschienen am 9. Oktober 2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

Die israelische Regierung ist ein todbringendes Gebilde, eine schamlose koloniale und imperialisti­sche Macht, die tagtäglich und seit 75 Jahren grausame Kriegsverbrechen begeht. Die willkürlich Kinder und Zivilisten tötet, erniedrigt und inhaftiert, deren einziges Verbrechen darin besteht, es zu wagen, Palästinenser zu sein. Übelkeit bei jedem Exzess der Regierung, ihrer Armee und ihrer Fa­natiker. Wut und Trauer bei jedem palästinensischen Todesfall.

Die israelische Regierung und das Massaker, das sie seit 1948 verübt, ist der eigentliche Feind, der Verbrecher – also muss er vernichtet werden. DIE ISRAELISCHE REGIERUNG.

Jetzt überkommt mich wieder die Übelkeit. Die Assimilierung einer ganzen Bevölkerung, in der Klassenkampf, rassistische Diskriminierung und politische Differenzen wie in jedem Land der Welt existieren, die Assimilierung dieser gesamten Bevölkerung an ihre Regierung, an ihre ethnische Identität ist faschistisches, unheilvolles und mörderisches Gedankengut. Es ist ein rechtsextremer Diskurs, der von Hass und Dummheit trieft.

Den Mord und die Vergewaltigung von gerade mal pubertierenden Jugendlichen zu feiern und sie als Siedler zu bezeichnen, als ob dieser Status alle Schrecken rechtfertigen und ihre Peiniger zu Hel­den machen würde, ist von unerhörter Brutalität. Die Inkohärenz ist absolut. Wer essentialisiert, wer kaltblütigen Mord verteidigt, kann sich nicht als links bezeichnen. Die Entmenschlichung einer Be­völkerung im Namen ihrer Nationalität oder Ethnizität gehört zur extremen Rechten.

Die Taktik der Hamas ist nicht nachvollziehbar, sie wissen, dass sie gegen die militärische Macht des jüdischen Staates machtlos sind. Die einzige bisher plausible Interpretation ist, dass die Hamas am Vorabend der Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien aus Ver­zweiflung ein Selbstmordkommando startet, wohl wissend, dass die Antwort darauf maßlose Ge­walt sein wird (die derzeitige Regierung ist die radikalste und gewalttätigste, die das Land in den letzten 30 Jahren erlebt hat, und zeigt offen ihren Willen, Palästina für immer von der Landkarte zu tilgen). Es ist diese Gewalt, die es der Hamas ermöglichen wird, ihre Unterstützung in der arabi­schen Welt zurückzugewinnen, und die verhindern könnte, dass es zu einem Abkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien kommt. Es handelt sich also um einen Selbstmordangriff, aber die Selbst­mörder sind die Zivilisten in Gaza. Die Menschen in Gaza leiden seit 16 Jahren unter einer uner­träglichen Blockade und ihr ohnehin schon unermessliches Elend wird immer größer (die Wüste kann nicht mehr größer werden?). Die Hamas missachtet das Leben, das auf dem Spiel steht, sogar das ihres eigenen Volkes.

Die Revolution sowie die palästinensische Befreiung sind notwendig, und zwar nicht auf abstrakte Weise. Ja, Krieg ist schmutzig, ja es gibt Blut, Ungerechtigkeiten, “Kollateralschäden” AKA den Tod von Unschuldigen.

Aber die Hamas hat ihre Karten schlecht ausgespielt. Sie schadet der palästinensischen Sache, in­dem sie der internationalen Gemeinschaft ein Gesicht des Terrors und des Hasses zeigt. Sie entsoli­darisiert, wenn die Solidarität mit dem palästinensischen Volk mehr denn je gefordert ist. Es ist schlicht und einfach die Hölle, die die Menschen in Gaza diese Woche erwartet.

Der dekoloniale Kampf ist auch ein Kampf der Medien. Die Bilder, die ich gesehen habe und die von nun an wie ein unaussprechlicher Albtraum in meinem Gedächtnis herumspuken, sind nicht zu rechtfertigen. Weder im Namen der palästinensischen Befreiung noch im Namen der Revolution kann ich das, was ich gesehen habe, gutheißen und weiterhin den Namen “Mensch” tragen.

Der Anblick des Sicherheitszauns, der mit Bulldozern durchbrochen wurde, ist eine Freude, ein ech­ter Gefängnisausbruch. Die abgebrannten Polizeistationen, die beschlagnahmten Militärstützpunkte. Gut, es gibt einen Zusammenhang, die seit jeher Unterdrückten greifen den Unterdrücker, seine In­stitutionen, seine Armee und seine Polizei an.

Der Rest ist schlicht und einfach unerträglich. In Wohnungen eindringen, aus nächster Nähe auf ganze Familien schießen, Frauen über den Leichen ihrer Freunde vergewaltigen, um sie dann zu exekutieren oder mit nackten, gedemütigten Körpern wie eine Kriegstrophäe herumlaufen, während eine jubelnde Menge darauf spuckt. Mir ist zum Kotzen zumute. Die “freedom fighters” lassen sich auf das Niveau der Unterdrücker herab und versinken vielleicht sogar in noch tieferer Finsternis.

Diejenigen, die skandieren: Das sind sowieso Siedler, sie hätten nur nicht zu einer Party an der Grenze zum Freiluftgefängnis Gaza gehen müssen, sollten sich fragen: Verdienen all diejenigen den Tod, die sich abends in ihr Bett legen, während am Fuß ihrer Häuser Obdachlose und Flüchtlinge schlafen? Verdienen all jene, die an den Mauern unserer Gefängnisse vorbeischlendern und an ihren Crush denken, den Tod? Wo beginnt die Schuld? Und sind wir nicht alle schuldig?

Es gibt ein Video, von dem ich wünschte, ich hätte es nie gesehen, und das mich verfolgt. Ich erspa­re es Ihnen, werde es aber beschreiben, weil es für mich einen Gedankengang aufwirft, der über die aktuellen Ereignisse hinausgeht.

In diesem Video, das von einem Palästinenser in Gaza aufgenommen und dann glorreich über die sozialen Netzwerke verbreitet wurde, gibt es nur einen einzigen weiblichen Körper inmitten einer Menge aufrecht stehender Männer. Dieser Körper hat kein Gesicht, er ist nackt, gedemütigt, mit dem Gesicht nach unten auf der Rückseite eines fahrenden Lastwagens. Fünf Männer um sie herum halten sie am hochgekrempelten Saum ihres Gewandes fest, fuchteln mit ihren Waffen in der Luft herum und jubeln. Die jubelnde Menge – nur Männer – rennt ihnen euphorisch hinterher. Einige klammern sich an den Rand des Trucks und spucken auf den leblosen Körper.

Der Körper dieser Frau ist eine Trophäe. Er ist ein Kriegsbeute, ein Symbol des Sieges. Er ist nackt und sein Gesicht liegt auf dem Boden. Der Körper einer Frau ist immer eine Kriegsbeute, ein Ob­jekt, das man vorführt. Von den antiken Mythen bis heute sind Frauen Tribute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine einzige Frau auf der Welt, die diese Szene sieht, sich darüber freuen kann. Ich kann nicht glauben, dass die Frauen in Gaza nicht spüren, wie ihr weibliches Fleisch angesichts die­ser Tortur zerrissen wird. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum sie auf der Bühne völlig abwe­send sind. Die Frau hat kein Gesicht, die Frau ist kein Mann.

Die Quelle all dieser Gewalt ist die israelische Regierung, und wir dürfen nicht vergessen, dass die Hamas ihr monströses Kind ist. Ihre Existenzen sind durch Blut miteinander verbunden – und die Zerstörung des Vaters würde die Existenz des Sohnes beenden. Diese beiden Entitäten sind die Feinde des palästinensischen Volkes und aller, die leben wollen.

Aber ich komme zu dem Schluss, dass vielleicht die Wurzel des Problems und all der Gewalt, die die Welt erschüttert, in der Männlichkeit liegt.

Wenn ich daran denke, dass erst vor wenigen Tagen Hunderte von palästinensischen und israeli­schen Frauen am Marsch von “women wage for peace” in Jerusalem teilgenommen haben, schaude­re ich vor dem Horror, der darauf folgte. Ich zittere vor den Männern, die ihre Waffen wie ein auf­gerichtetes Geschlechtsteil durch die Luft schwingen. Ich zittere vor den gedemütigten, in ihrer Männlichkeit verletzten Staatschefs, die ihre Entscheidungen mit nur einem einzigen Gedanken im Kopf treffen werden: zu beweisen, wer den dicksten Schwanz hat.

Ich weiß, dass ich von allen Seiten fertig gemacht werde. Von Pro-Palästina, Pro-Israel, Anti-Femi­nisten, fragilen Männern und verbündeten Frauen. Und zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das alles egal.

Dieser Beitrag wurde unter Bulletin No. 1, Bulletins, General veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.